Vollendet (German Edition)
Teil Gottes in allen.«
Amen.
Lev spricht Gebete, möchte sich wie einst von ihnen berühren, sich aufrichten lassen, doch sein Herz ist zu hart geworden. Er wünschte, es wäre hart wie Diamant und nicht wie bröckelnder Jade – vielleicht hätte er dann einen anderen Weg eingeschlagen. Doch für den, der er jetzt ist, für das, was er jetzt fühlt oder auch nicht fühlt, ist es der richtige Weg. Und wenn es nicht der richtige ist, na ja, dann kann er es jetzt auch nicht mehr ändern.
Die übrigen Zehnten wissen, dass Lev anders ist. Sie sind noch nie einem gefallenen Zehntopfer begegnet, geschweige denn einem, das wie der verlorene Sohn seinen Sünden abgeschworen hat und zur Herde zurückgekehrt ist. Aber ein Zehntopfer kennt meist nicht viele seinesgleichen, bevor es ins Ernte-Camp kommt. Wenn es dann von so vielen umgeben ist, die sind wie es selbst, wächst das Empfinden, einer Gruppe von Erwählten anzugehören. Dennoch ist Lev außerhalb dieses Kreises.
Mit gleichmäßigen und sanften Schritten setzt er das Laufband in Bewegung. Das Gerät ist hochmodern. Es hat einen Bildschirm mit einem einstellbaren Hintergrund: Man kann durch Wälder joggen oder den New-York-Marathon laufen. Man kann sogar über Wasser gehen.
Als Lev vor einer Woche hier eintraf, wurde ihm zusätzlicher Sport verschrieben. Am ersten Tag wies sein Blut einen erhöhten Triglycerid-Wert auf. Blaines und Mais Bluttests haben sicher dasselbe Problem zum Vorschein gebracht. Allerdings wurden die drei unabhängig voneinander »eingefangen« und trafen daher auch ein paar Tage nacheinander ein, damit niemand zwischen ihnen eine Verbindung herstellte.
»Entweder ist das bei dir familiär bedingt, oder du hast dich sehr fettreich ernährt«, hat der Arzt gesagt. Er hat ihm für seinen Aufenthalt in Happy Jack eine fettarme Diät verschrieben und zusätzlich Sport empfohlen.
Für den hohen Triglyceridspiegel gibt es freilich eine völlig andere Erklärung. In Levs Blutkreislauf befindet sich gar kein Triglycerid, sondern eine ähnliche Verbindung. Eine, die nicht ganz so stabil ist.
Ein anderer Junge betritt den Fitnessraum. Er hat feines hellblondes Haar, das schon fast weiß ist, und Augen so grün, dass eine Genmanipulation im Spiel sein muss. Diese Augen werden einen hohen Preis erzielen.
»Hallo, Lev.« Er steigt auf das Laufband neben ihm. »Was machst du?«
»Nicht viel. Laufen.«
Lev ist klar, dass der Junge nicht aus eigenem Antrieb hergekommen ist. Die Zehnten sollen nie allein sein. Man hat ihn geschickt, um Lev Gesellschaft zu leisten.
»Wir zünden bald die Kerze an. Kommst du auch?«
Für das Zehntopfer, das am folgenden Tag umgewandelt wird, wird am Vorabend eine Kerze angezündet. Der Wandler hält eine Rede. Allgemeiner Applaus. Lev findet das widerlich.
»Ich werde da sein«, sagt er trotzdem.
»Wie steht’s mit deiner Rede? Ich habe meine fast fertig.«
»Ich hab bisher nur Fetzen.« Der Witz geht an dem anderen vorbei. Lev stellt das Laufband ab. Der Kerl wird ihm hier keine Ruhe lassen, und er hat keine Lust, mit ihm über die Herrlichkeit des Erwähltseins zu plaudern. Er möchte lieber an die denken, die nicht erwählt wurden und das Glück haben, weit weg zu sein. Risa und Connor zum Beispiel, die im Schutze des Friedhofs geborgen sind. Die Gewissheit, dass ihr Leben weitergeht, auch wenn seins vorüber ist, tröstet ihn.
Hinter dem Speisesaal befindet sich im Hof ein alter Schuppen, der nicht mehr benutzt wird. Lev hat ihn letzte Woche entdeckt. Für Geheimtreffen ist er ideal. Als Lev an diesem Abend dort ankommt, geht Mai in kleinen Schritten im Schuppen auf und ab. Sie wird mit jedem Tag nervöser. »Wie lange sollen wir denn noch warten?«, fragt sie.
»Warum hast du es so eilig?«, fragt Lev. »Wir warten, bis die Zeit reif ist.«
Blaine zieht sechs kleine Päckchen aus seinem Socken, reißt eins auf und holt ein kleines rundes Pflaster heraus.
»Wofür ist das?«, fragt Mai.
»Was du nicht weißt, macht dich nicht heiß.«
»Du bist echt so was von unreif!« Mai brennt immer schnell die Sicherung durch, besonders bei Blaine, aber heute scheint es unter der Oberfläche noch mehr zu brodeln als sonst.
»Was ist denn los, Mai?«, fragt Lev.
Mai antwortet nicht gleich. »Ich habe heute so ein Mädchen auf dem Schlachthaus Keyboard spielen sehen. Ich kenne sie vom Friedhof – und sie kennt mich auch«, sagt sie schließlich.
»Das ist unmöglich. Wenn sie vom Friedhof ist, warum sollte sie
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