Vollendet (German Edition)
versteckt. Falls sie jemand findet, wird er sie für Pflaster halten. Lev will nicht darüber nachdenken. Es ist Blaines Aufgabe, sich Gedanken zu machen und ihm zu sagen, wann es so weit ist.
Heute unternehmen die Zehnten einen Spaziergang in die Natur, wo sie mit der Schöpfung in Kontakt kommen wollen. Der Pastor, der sie führt, ist ein aufgeblasener Fatzke. Er verkündet seine Worte wie Perlen der Weisheit und legt nach jedem Gedanken eine kleine Pause ein – vielleicht meint er, es wolle jemand mitschreiben.
Er führt sie zu einem merkwürdigen Baum, der sein Laub abgeworfen hat. Lev, der Winter mit Eis und Schnee gewöhnt ist, findet es seltsam, dass die Bäume in Arizona trotz der Wärme ihre Blätter verlieren. Dieser Baum hat eine Vielzahl von Ästen, die nicht recht zusammenpassen wollen, jeder mit einer anderen Rinde und einem anderen Wuchs.
»Ich wollte euch das hier zeigen«, erklärt der Pastor den versammelten Zehnten. »Im Moment ist nicht viel zu sehen, aber ihr solltet ihn mal im Frühling erleben. Im Lauf der Jahre haben viele von uns Äste unserer Lieblingsbäume auf den Stamm gepfropft. Der hier blüht rosa, und der hat riesige Ahornblätter. Der da ist über und über voll mit lila Palisanderblüten, und an dem dort wachsen schwere Pfirsiche.«
Die Jugendlichen betrachten die Äste und berühren sie vorsichtig, als würden sie sich jeden Moment in einen brennenden Busch verwandeln. »Was für ein Baum war das ursprünglich?«, fragt einer von ihnen.
Der Pastor kann ihm keine Antwort geben. »Ich weiß es nicht genau, aber es spielt auch gar keine Rolle – wichtig ist, was daraus geworden ist. Wir nennen ihn unseren kleinen ›Lebensbaum‹. Ist das nicht wunderbar?«
»Daran ist doch nichts Wunderbares.« Die Worte sind Lev rausgeflutscht, fast wie ein Rülpser. Alle Augen sind auf ihn gerichtet. Schnell rettet er die Situation. »Es ist das Werk von Menschen, und wir sollten uns vor Stolz hüten. Wo Stolz ist, da ist auch Schmach; aber Weisheit ist bei den Demütigen.«
»Genau«, sagt der Pastor. »Sprüche 11, nicht wahr?«
»Sprüche 11.2.«
»Sehr gut.« Er gibt sich demütig. »Aber im Frühling ist er wirklich recht hübsch.«
Der Weg zurück zum Haus der Zehnten führt sie vorbei an Spielfeldern und Plätzen, auf denen die Schrecklichen beobachtet und vor der Umwandlung in die bestmögliche körperliche Verfassung gebracht werden. Die gelegentlichen Sticheleien und Schmährufe der Schrecklichen ertragen die Zehnten wie Märtyrer.
Als sie an den Schlafsälen vorbeikommen, sieht sich Lev plötzlich jemandem gegenüber, den wiederzusehen er niemals erwartet hätte. Vor ihm steht Connor.
Die beiden wollen in unterschiedliche Richtungen, erkennen einander aber im selben Augenblick, bleiben stehen und starren ihr Gegenüber mit offenem Mund an.
»Lev?«
Doch da ist der aufgeblasene Pastor schon da und packt Lev bei den Schultern. »Halt dich von ihm fern!«, schreit er Connor an. »Hast du nicht schon genug Schaden angerichtet?« Dann führt er Lev weg und lässt Connor stehen.
»Es ist alles gut«, sagt der Pastor, der Lev beschützend den Arm um die Schulter gelegt hat. »Wir wissen, wer er ist und was er dir angetan hat. Wir haben gehofft, du würdest nicht erfahren, dass er auch hier ist. Aber ich verspreche dir, Lev, er wird dir nie wieder etwas tun.« Und dann fügt er leise hinzu: »Heute Nachmittag wird er umgewandelt.«
»Was?«
»Dann sind wir ihn los!«
Da Zehntopfer meist in Gruppen auftreten oder zumindest im Zweiergrüppchen, sieht man nur selten einen allein über die Spielfelder gehen, geschweige denn rennen.
Lev hat sich nicht lang im Zehntopferhaus aufgehalten, sondern die nächste Gelegenheit genutzt, um sich wieder davonzustehlen. Nun sucht er überall nach Blaine und Mai.
Connor wird heute Nachmittag umgewandelt. Wie konnte das geschehen? Wie ist er überhaupt hierhergekommen? Connor war auf dem Friedhof sicher. Hat der Admiral ihn hinausgeworfen, oder ist er von sich aus gegangen? Egal, was passiert ist, Connor muss erwischt worden sein. Wenn Lev einen Trost hatte, dann das Überleben seiner Freunde. Connor darf nicht umgewandelt werden . Und es steht in Levs Macht, es zu verhindern.
Er findet Blaine auf der Wiese zwischen Speisesaal und Schlafsälen, wo er Freiübungen absolviert. Da Blaine möglichst wenig Kraft einsetzt, wirken seine Bewegungen matt.
»Ich muss mit dir reden.«
Blaine sieht ihn an, überrascht und wütend. »Was? Bist du
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