Vollendet (German Edition)
sich, aber der Griff ist eisern. Immer wieder klatscht Roland ihn gegen die Wand, ohne die Finger von seinem Hals zu lösen.
»Du behauptest, ich wäre ein Mörder, dabei bist du der einzige Verbrecher hier!«, schreit er. »Ich habe keine Geisel genommen! Ich habe keinen JuPo mit seiner eigenen Waffe betäubt! Und ich habe nie jemanden umgebracht! Bis jetzt!« Roland drückt noch fester zu.
Connors Gegenwehr wird schwächer, seine Muskeln bekommen nicht mehr genügend Sauerstoff. Seine Brust hebt sich nur noch schwach, und vor seinen Augen verschwimmt alles, bis er nichts anderes mehr vor sich sieht als Rolands wütende Grimasse.
Was ist euch lieber: Sterben oder umgewandelt werden?
Jetzt weiß er es endlich. Vielleicht wollte er genau das. Vielleicht hat er Roland deshalb bis aufs Blut gereizt. Weil er lieber von wütender Hand umgebracht als mit kühler Gleichgültigkeit zerlegt werden will.
Vor Connors Augen wirbeln wilde Kreisel, die Dunkelheit bricht über ihn herein, und er verliert das Bewusstsein.
Aber nur für einen Augenblick.
Denn als einen Moment später sein Kopf auf den Boden knallt, bringt ihn das wieder zurück – sein Blick wird klarer und er sieht Roland über sich, der auf ihn herabblickt. Er steht einfach nur da und starrt ihn an. Zu Connors Überraschung hat Roland Tränen in den Augen, die er hinter seiner Wut verstecken will, die aber trotzdem da sind. Er betrachtet die Hand, mit der er Connor fast das Leben genommen hätte. Er konnte es nicht durchziehen, und das scheint ihn genauso zu überraschen wie Connor.
»Da hast du noch mal Glück gehabt«, sagt er. Dann geht er ohne ein weiteres Wort.
Connor weiß nicht, ob Roland enttäuscht oder erleichtert ist, kein Mörder zu sein – wahrscheinlich beides.
57. Lev
Die Zehntopfer in Happy Jack sind wie Passagiere erster Klasse auf der Titanic. Im Zehntopferhaus stehen überall Plüschmöbel herum. Es gibt ein Theater, ein Schwimmbad, und das Essen ist besser als in einem Sternerestaurant. Sicher, ihnen steht dasselbe Schicksal bevor wie den Schrecklichen, aber der Weg dorthin ist um einiges stilvoller.
Nach dem Abendessen ist Lev allein im Fitnessraum des Zehntopferhauses. Er steht auf einem Laufband, hat es aber noch nicht eingeschaltet. An den Füßen hat er gut gepolsterte Laufschuhe, und er trägt zwei Paar Socken, um sie noch besser zu schützen. Doch nicht seine Füße bereiten ihm im Moment Probleme, sondern seine Hände. Er starrt sie gedankenverloren an. Nie zuvor war er so fasziniert von den Linien, die sich über die Handflächen ziehen. Ist nicht eine davon die Lebenslinie? Müsste sich die Lebenslinie eines Zehntopfers nicht verzweigen wie die Äste eines Baums? Lev betrachtet die Kreisel an seinen Fingerspitzen. Das Identifizieren anhand von Fingerabdrücken muss doch ein Albtraum sein, wenn die Leute die Hände von Wandlern haben. Was bedeuten schon Fingerabdrücke, wenn sie nicht unbedingt die eigenen sind?
Levs Fingerabdrücke wird niemand bekommen. Das weiß er sicher.
Für die Zehnten werden jede Menge Aktivitäten angeboten, doch anders als für die Schrecklichen ist alles freiwillig. Da sich die Jugendlichen in Vorbereitung auf den Zehntopfergang noch vor dem Fest einer monatelangen Prozedur geistiger und körperlicher Übungen unterziehen, ist ein Großteil der Arbeit bereits erledigt, wenn sie ins Ernte-Camp kommen. Sicher, das ist nicht das Camp, das er und seine Eltern sich ausgesucht haben, aber er ist ein Zehntopfer – das ist ein Ausweis, der lebenslang und überall gilt.
Die meisten anderen Zehnten halten sich um diese Zeit im Gemeinschaftsraum oder in einer der Gebetsgruppen auf. Im Zehntopferhaus sind Geistliche aller Glaubensrichtungen vertreten – Pastoren, Priester, Rabbis –, denn die Tradition, die Besten der Gemeinde an Gott zurückzugeben, ist so alt wie die Religionen selber.
Lev nimmt so oft wie nötig teil und meldet sich in der Bibelstunde zu Wort, um nicht verdächtig zu wirken. Wenn Bibelstellen zerrupft werden, um die Umwandlung zu rechtfertigen, und die Jugendlichen in den Textfetzen das Gesicht Gottes zu sehen meinen, hält er den Mund.
»Mein Onkel hat das Herz eines Zehntopfers. Die Leute sagen, er kann Wunder vollbringen.«
»Ich kenne eine Frau, die das Ohr eines Zehntopfers hat. Sie hat einen ganzen Block weiter ein Baby schreien gehört und es aus einem brennenden Haus gerettet!«
»Wir sind die heilige Kommunion.«
»Wir sind das himmlische Manna.«
»Wir sind ein
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