Vollendet (German Edition)
einfach fallen und rannte weg – so wie er auf der Autobahn seinen Rucksack ablegte, damit er Lev tragen konnte. Sein Portemonnaie mit all seinem Geld war darin. Jetzt besitzt er nur noch die Fusseln in seinen Hosentaschen.
Es ist spät oder genauer gesagt sehr früh, fast dämmert es schon. Risa und er waren den ganzen Tag durch den Wald gegangen, so gut es eben ging mit einem bewusstlosen Zehntopfer auf dem Buckel. Als die Nacht hereinbrach, wechselten sie sich mit Wachehalten ab.
Er traut Lev nicht, deshalb hat er ihn an den Baum gebunden, aber es gibt eigentlich auch keinen Grund, dem Mädchen aus dem Bus zu trauen. Nur das gemeinsame Ziel, am Leben zu bleiben, bindet sie aneinander.
Der Mond ist inzwischen untergegangen, aber ein schwacher Lichtschein kündigt das rasche Nahen der Morgendämmerung an. Inzwischen sind ihre Gesichter überall bekannt. Haben Sie diese Jugendlichen gesehen? Vorsicht. Sie gelten als gefährlich. Rufen Sie sofort die Polizei. Seltsam. In der Schule hatte Connor viel Zeit damit verschwendet, alle davon zu überzeugen, wie gefährlich er war, aber wenn es dann darauf ankam, war er sich selbst gar nicht mehr sicher, ob es auch stimmte. Vielleicht war er nur gefährlich für sich selbst.
Er weiß, dass Lev ihn die ganze Zeit über beobachtet. Zuerst war der Blick des Jungen träge gewesen, sein Kopf rollte immer auf eine Seite, aber jetzt ist dieser Blick wach. Sogar im Halbdunkel des verlöschenden Feuers kann Connor die Augen erkennen. Kalt und blau. Berechnend. Der Junge ist ein komischer Vogel. Connor kann nicht sagen, was auf dem Planeten Lev vor sich geht, und vielleicht will er das auch gar nicht wissen.
»Die Bisswunde entzündet sich, wenn du nichts machst«, sagt Lev.
Connor schaut auf die Stelle, wo er ihn gebissen hat. Sie ist immer noch rot und geschwollen. Den Schmerz hatte er ausgeblendet, bis Lev ihn daran erinnert. »Ich komm schon klar.«
Lev mustert ihn weiterhin. »Warum sollst du umgewandelt werden?«
Diese Frage mag Connor aus verschiedenen Gründen nicht.
»Du meinst, warum ich umgewandelt werden sollte . Wie du siehst, werde ich nicht mehr umgewandelt.«
»Sie tun es, wenn sie dich kriegen.«
Connor hat Lust, den selbstgefälligen Ausdruck auf dem Gesicht des Jungen mit einem Faustschlag auszulöschen, aber er hält sich zurück. Er hat ihn nicht gerettet, um ihn dann zu verprügeln.
»Wie ist es eigentlich«, fragt Connor zurück, »wenn man das ganze Leben weiß, dass man geopfert wird?« Er wollte ihn damit verletzen, aber Lev nimmt die Frage ernst.
»Es ist besser, als durchs Leben zu gehen, ohne seinen Sinn zu kennen.«
Connor ist nicht sicher, ob das absichtlich gegen ihn gerichtet war – ob er damit sagen wollte, dass Connors Leben keinen Sinn hätte –, aber die Worte geben ihm das Gefühl, er wäre an den Baum gebunden und nicht Lev. »Könnte schlimmer sein«, sagt Connor. »Hätte uns allen ergehen können wie Humphrey Dunfee.«
Lev wirkt erstaunt. »Kennst du die Geschichte? Ich dachte, sie würde nur bei uns in der Gegend rumgehen.«
»Nö«, sagt Connor. »Man erzählt sie sich überall.«
»Sie ist erfunden«, sagt Risa.
»Vielleicht«, meint Connor. »Aber ich hab das beim Surfen auf einem Schulcomputer zusammen mit einem Freund mal recherchiert. Wir fanden eine Website über ihn und über seine Eltern, die komplett verrückt geworden sind. Dann ist der Computer abgestürzt. Wir hatten uns einen Virus eingefangen, der den Server für den ganzen Bezirk plattgemacht hat. Zufall? Wohl kaum!«
Lev lauscht gebannt, Risa ist ziemlich aufgebracht. »Ich ende auf keinen Fall wie Humphrey Dunfee. Damit Eltern ausrasten können, muss man erst mal welche haben, und ich hab keine.« Damit steht sie auf. Connor schaut von dem verlöschenden Feuer auf. Der Morgen graut bereits.
»Wenn wir nicht gefasst werden wollen, sollten wir wieder die Richtung ändern«, sagt Risa. »Außerdem sollten wir über eine Tarnung nachdenken.«
»Zum Beispiel?«, fragt Connor.
»Ich weiß nicht. Zuerst mal andere Kleider. Vielleicht die Haare schneiden. Sie suchen nach zwei Jungs und einem Mädchen. Vielleicht könnte ich mich als Junge verkleiden.«
Connor betrachtet sie aufmerksam und lächelt. Risa ist hübsch. Nicht so wie Ariana, mit Make-up und Pigmentinjektionen und so. Risa ist auf natürliche Weise schön. Ohne zu überlegen, streckt Connor die Hand aus und streicht ihr über die Haare. Sanft sagt er: »Du würdest nie als Junge
Weitere Kostenlose Bücher