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Vollendet (German Edition)

Vollendet (German Edition)

Titel: Vollendet (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Shusterman
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bewegt sich durch schmale Seitenstraßen. Keine Menschenseele ist zu sehen. Müllcontainer werfen rechteckige schwarze Schatten. Überall liegen zerbrochene Flaschen.
    Das ist genau die richtige Tageszeit für ihr Vorhaben, denn jetzt sind weniger Kojoten und andere Aasfresser unterwegs. Sie könnte es nicht ertragen, dass das Baby unnötig leidet.
    Ein großer grüner Müllcontainer, der schief auf dem unebenen Gehweg steht, ragt vor ihr auf, und sie presst das Baby an sich, als ob dem Container Hände wachsen könnten, die das Baby packen und es in seinen dreckigen Bauch ziehen. Sie schlägt einen Bogen um ihn und geht weiter die Straße hinunter.
    Kurz nachdem die Charta des Lebens verabschiedet worden war, warfen verzweifelte Mädchen wie sie ihre ungewollten Neugeborenen einfach in den Müll. Es geschah so oft und war so normal, dass es nicht einmal mehr in den Nachrichten erwähnt wurde.
    Die Charta sollte die Unantastbarkeit des Lebens eigentlich schützen, doch stattdessen machte sie es wertlos. Gott sei Dank gab es die Gesetzesinitiative »Storchen«, die Mädchen wie ihr eine Alternative bot.
    Während das Morgengrauen in den frühen Morgen übergeht, verlässt sie die schmalen Seitengassen. Mit jeder Straße, die sie überquert, wird das Viertel besser. Die Häuser sind groß und einladend. Das ist die richtige Gegend zum Storchen.
    Sie wählt das Haus sehr geschickt. Es ist nicht das größte, aber auch nicht das kleinste. Der Gartenweg von der Straße zur Haustür ist kurz, sodass sie rasch verschwinden kann. Außerdem ist er von Bäumen gesäumt: Weder von drinnen noch von draußen kann sie jemand dabei beobachten, wie sie das Neugeborene storcht.
    Vorsichtig nähert sie sich der Eingangstür. Im Haus brennt noch kein Licht, das ist gut. In der Garageneinfahrt steht ein Auto, was hoffentlich heißt, dass jemand zu Hause ist. Behutsam steigt sie die Stufen zur Veranda hinauf, immer darauf bedacht, keinen Lärm zu machen. Dann kniet sie nieder und legt das schlafende Baby auf die Fußmatte. Zwei Decken umhüllen das Kind, und eine Wollmütze bedeckt seinen Kopf. Sie zieht die Decken ordentlich glatt. Mehr hat sie als Mutter nicht gelernt.
    Sie überlegt, ob sie klingeln und weglaufen soll, aber das ist keine gute Idee. Wenn sie erwischt wird, muss sie das Baby behalten, auch das regelt das Gesetz. Aber wenn sie die Tür öffnen und nur das Baby vorfinden, dann gilt: »Wer’s findet, dem gehört’s.« Das Kind gehört dann rechtmäßig zu ihnen, ob sie wollen oder nicht.
    Seit sie von der Schwangerschaft wusste, wollte sie das Kind storchen. Sie hatte gehofft, sie würde sich anders besinnen, wenn sie das Baby dann sehen und es hilflos zu ihr aufschauen würde. Aber wem wollte sie etwas vormachen? Sie hat derzeit weder die Fähigkeit noch den Wunsch, Mutter zu sein, deshalb ist das Storchen die beste Lösung.
    Sie hat sich länger auf der Veranda aufgehalten, als klug ist. Im Obergeschoss geht ein Licht an, und sie zwingt sich endlich, den Blick von dem schlafenden Neugeborenen abzuwenden, und geht. Nachdem die Bürde von ihr genommen ist, fühlt sie sich auf einmal sehr stark. Sie hat eine zweite Chance bekommen, und dieses Mal wird sie sich schlauer anstellen, da ist sie sich ganz sicher.
    Als sie davoneilt, freut sie sich darüber, dass sie diese zweite Chance bekommt. Darüber, dass sie ihre Verantwortung so leicht losgeworden ist.

10. Risa
    Ein paar Straßen von dem gestorchten Neugeborenen entfernt, am Rand eines dichten Waldes, klingelt Risa an der Tür eines Hauses. Eine Frau im Bademantel öffnet.
    Risa lächelt sie breit an. »Hallo, ähm, ich bin Didi? Ich sammle Kleider und Essen für unsere Schule? Wir geben sie, äh, Obdachlosen? Und es ist wie so ein Wettbewerb? Wer die meisten Spenden sammelt, bekommt eine Reise nach Florida oder so? Das wäre so, so toll, wenn Sie helfen!«
    Die schläfrige Frau versucht ihr Gehirn auf den Stand von »Didi«, Kämpferin für die Obdachlosen, zu bringen. Aber sie kommt nicht zu Wort, denn Didi redet viel zu schnell. Wenn Risa einen Kaugummi hätte, würde sie immer mal wieder eine Blase machen, um noch echter zu wirken.
    »Bitte-bitte-ach-bitte? Ich bin, äh, schon auf Platz zwei?«
    Die Frau an der Tür findet sich seufzend damit ab, dass Didi nicht mit leeren Händen weggeht. Solche Mädchen wird man am besten los, wenn man ihnen einfach etwas gibt. »Ich bin gleich wieder da«, sagt die Frau.
    Drei Minuten später verschwindet Risa mit einer Tasche

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