Vollendet (German Edition)
wunderbare Familie. Sie nehmen gestorchte Babys auf und schicken ihr eigenes Kind zum Umwandeln, oh, Verzeihung, geben es als Zehntopfer.«
»Das Zehntopfer kommt aus der Bibel«, sagt Lev hörbar gekränkt. »Man soll den zehnten Teil von allem, was man besitzt, abgeben. Und storchen kommt auch aus der Bibel.«
»Nein, tut es nicht.«
»Moses. Er wurde in einem Körbchen auf dem Nil ausgesetzt und von der Tochter des Pharaos gefunden. Er war das erste gestorchte Baby, und denk nur, was aus ihm geworden ist.«
»Okay«, sagt Connor, »aber was ist aus dem nächsten Baby geworden, das sie auf dem Nil gefunden hat?«
»Sprich leiser«, weist Risa ihn zurecht. »Sonst hört man dich auf dem Flur, außerdem weckst du Didi.«
Connor muss erstmal seine Gedanken sammeln. Als er wieder spricht, flüstert er, aber in gekachelten Räumen gibt es kein Flüstern. »Wir wurden gestorcht, als ich sieben war.«
»Wie schrecklich«, sagt Risa trocken.
»Ja, es war schrecklich, und zwar aus verschiedenen Gründen. In unserer Familie gab es schon zwei Kinder, und meine Eltern hatten keine weiteren geplant. Egal. Dieses Baby liegt also vor unserer Tür. Meine Eltern flippen total aus … und dann kommt ihnen eine Idee.«
»Will ich das wissen?«, fragt Risa.
»Wahrscheinlich nicht.« Aber Connor ist nicht zu bremsen. Er weiß, wenn er es jetzt nicht ausspricht, dann tut er es nie. »Es war früh am Morgen, und meine Eltern gingen davon aus, dass niemand das Baby vor unserer Tür gesehen hatte. Also legte mein Vater es am nächsten Morgen, noch bevor irgendjemand aufgestanden war, vor die Tür des Hauses gegenüber.«
»Das ist gegen das Gesetz«, verkündet Lev. »Wenn du gestorcht wirst, gehört das Baby dir.«
»Ja, aber meine Eltern dachten, es würde niemand erfahren. Sie beschworen meinen Bruder und mich, kein Wort zu sagen, und wir warteten darauf, dass die Leute von Gegenüber uns von dem unerwarteten Neuankömmling erzählen würden … aber wir hörten nichts. Sie redeten nie davon, dass sie gestorcht worden waren, und fragen konnten wir ja schlecht, sonst hätten wir uns verraten.«
Während Connor spricht, scheint sich die kleine Kabine noch dichter um ihn zusammenzuziehen. Die anderen beiden sind direkt neben ihm, aber er fühlt sich trotzdem allein.
»Das Leben geht weiter, als sei nichts geschehen. Aber nach zwei Wochen mache ich die Tür auf und auf der blöden Fußmatte liegt wieder ein Baby … und ich erinnere mich … ich erinnere mich, dass ich fast lachen musste. Ist das zu glauben? Ich fand das lustig, drehte mich zu meiner Mutter um und sagte: ›Mom, wir sind schon wieder gestorcht worden‹ … genau wie der kleine Junge heute Morgen. Meine Mutter holte total genervt das Kind herein … und da merkt sie …«
»Oh nein.« Risa ahnt, was kommt, bevor Connor es ausspricht.
»… dass es dasselbe Baby ist!« Connor versucht sich an das Gesicht des Babys zu erinnern, aber es gelingt ihm nicht. Nur das Gesicht des Babys auf Risas Arm erscheint vor seinem geistigen Auge. »Das Baby ist zwei Wochen lang in der Nachbarschaft herumgereicht worden. Jeden Morgen lag es vor einer anderen Tür … und es sah nicht mehr besonders gesund aus.«
»Was ist dann mit dem Baby geschehen?«, fragt Risa.
»Als es wieder vor unserer Tür gelandet ist, war es krank. Es hat bellend gehustet, und seine Haut und die Augen waren gelb.«
»Neugeborenen-Gelbsucht«, sagt Risa leise. »Viele Babys ha-ben das, wenn sie ins Waisenhaus kommen.«
»Meine Eltern brachten das Baby ins Krankenhaus, aber dort konnte man ihm nicht helfen. Ich war bei ihm, als es starb. Ich habe gesehen, wie es starb.« Connor schließt die Augen und beißt die Zähne zusammen, um die Tränen zurückzuhalten. Die anderen können ihn zwar nicht sehen, aber er will trotzdem nicht weinen. »Ich weiß noch, wie ich damals gedacht habe: Warum lässt Gott zu, dass ein Kind auf die Welt kommt, das so wenig geliebt wird?«
Er wartet, ob Lev sich zu diesem Thema äußern will, schließlich behauptet er, alle Antworten zu kennen, wenn es um Gott geht.
Aber Lev sagt nur: »Ich wusste gar nicht, dass du an Gott glaubst.«
Connor braucht einen Augenblick, um seine Gefühle niederzukämpfen, und fährt dann fort: »Jedenfalls, da es dem Gesetz nach zu uns gehörte, haben wir die Bestattung bezahlt. Es hatte nicht einmal einen Namen, und meine Eltern brachten es nicht fertig, ihm einen zu geben. Es hieß einfach ›Baby Lassiter‹, und obwohl niemand
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