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Vollendet (German Edition)

Vollendet (German Edition)

Titel: Vollendet (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Shusterman
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fragt man nicht. Verstehst du, was ich dir sagen will?«
    »Aber … ich möchte geopfert werden. Ich muss. Sie müssen meine Eltern anrufen und es ihnen sagen. Sie müssen mich zum Ernte-Camp bringen.«
    Jetzt wird Pastor Dan wütend. »Zwing mich nicht, das zu tun. Bitte, zwing mich nicht!« Er klingt kämpferisch, aber irgendwie kämpft er nicht gegen Lev. Das entspricht überhaupt nicht dem Bild, das Lev von Pastor Dan hat. Das soll der Mensch sein, den er schon seit so vielen Jahren kennt? Als ob ein Betrüger die Stimme des Pastors gestohlen hätte, aber nicht seine Überzeugungen.
    »Verstehst du nicht, Lev? Du kannst dich retten. Du kannst sein, wer immer du willst.«
    Und auf einmal erkennt Lev die Wahrheit. Pastor Dan hat ihm auf der Autobahn nicht gesagt, er solle vor dem Entführer weglaufen, sondern vor ihm weglaufen. Vor seinen Eltern. Vor seinem Opfergang. All seine Predigten und Vorträge, all die Gespräche über Levs heilige Pflicht waren Heuchelei. Lev wurde geboren, um geopfert zu werden, und der Mann, der ihn davon überzeugt hatte, dass es ein ruhmreiches und ehrenwertes Schicksal sei, glaubt selbst nicht daran.
    »Lev? Lev, bist du noch da?«
    Er ist noch da, aber er möchte nicht mehr da sein. Er möchte diesem Mann nicht antworten, der ihn zu einer Klippe geführt hat und sich dann in letzter Minute abwendet. Levs Gefühle drehen sich im Kreis. Einen Augenblick lang ist er zornig, im nächsten erleichtert. Einen Augenblick lang ist er so von schrecklicher Angst erfüllt, dass er ihren sauren Geruch in der Nase wahrnimmt, im nächsten durchfährt ihn Freude, wie damals, wenn er den Schläger schwang und krachend den Ball traf. Jetzt ist er der Ball und fliegt weit weg. Sein Leben war wie ein Baseballfeld gewesen, oder? Linien, Ordnung und Regeln, die sich niemals änderten. Aber jetzt ist er über den Zaun in unbekanntes Gebiet geschlagen worden.
    »Lev?«, sagt Pastor Dan. »Du machst mir Angst. Rede mit mir.«
    Lev holt tief Luft und sagt: »Leben Sie wohl, Sir.« Dann legt er ohne ein weiteres Wort auf.
    Lev sieht draußen Polizeiwagen vorfahren. Connor und Risa werden bald gefasst sein, wenn es nicht schon geschehen ist. Die Krankenschwester steht nicht mehr an der Tür, sondern tadelt den Rektor heftig dafür, wie er mit der Situation umgeht. »Warum haben Sie die Eltern des armen Jungen nicht angerufen? Warum haben Sie die Schule nicht abriegeln lassen?«
    Lev weiß, was er zu tun hat. Es ist verboten, aber auf einmal ist ihm das egal. Hinter dem Rücken der Krankenschwester und des Rektors schlüpft er aus dem Sekretariat auf den Flur hinaus. Innerhalb einer Sekunde hat er gefunden, was er sucht. Er streckt die Hand nach dem kleinen Kasten an der Wand aus.
    Ich habe jede Orientierung verloren.
    Und mit dem Gefühl des kalten Metalls unter seinen Fingerspitzen löst er den Feueralarm aus.

16. Lehrerin
    Der Feueralarm geht während der Vorbereitungszeit der Lehrerin los, und sie verflucht insgeheim die Entscheidungsträger für ihr mieses Timing. Vielleicht, überlegt sie, kann sie einfach in ihrem leeren Klassenzimmer bleiben, bis die Feueralarmübung – und es ist immer bloß eine Übung – vorbei ist. Aber andererseits, was gibt sie für ein Beispiel ab, wenn vorbeigehende Schüler sie hier sitzen sehen?
    Als sie den Raum verlässt, füllen sich die Flure bereits mit Schülern. Lehrer bemühen sich nach Kräften, die Schülerströme in geordnete Bahnen zu lenken, aber das hier ist nun mal eine Highschool. Die organisierten Zweierreihen der Grundschule gehören der Vergangenheit an. An ihre Stelle ist das aufmüpfige, hormongesteuerte Hin und Her von Jugendlichen getreten.
    Dann macht sie eine beunruhigende Entdeckung.
    Vor dem Sekretariat stehen zwei Polizisten. Sie sehen von der Meute Jugendlicher, die an ihnen vorbei durch die Vordertüren der Schule hinausströmt, tatsächlich etwas eingeschüchtert aus. Aber warum Polizisten? Warum keine Feuerwehrleute? Und wie sind sie so schnell hierhergekommen? Das ist unmöglich, sie müssen gerufen worden sein, bevor der Alarm losging. Aber warum?
    Beim letzten Mal, als Polizisten in der Schule waren, hatte jemand einen Klatscher-Verdacht gemeldet. Die Schule wurde geräumt, und alle erfuhren erst danach, warum. Es stellte sich heraus, dass keine Klatscher da gewesen waren und nie die Gefahr bestanden hatte, dass die Schule in die Luft fliegt. Ein Schüler hatte sich einen derben Scherz erlaubt. Dennoch werden Klatscher-Alarme immer

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