Vollendet (German Edition)
es gewollt hatte, kam die ganze Nachbarschaft zur Beerdigung. Die Leute weinten, als ob ihr Baby gestorben sei … Und da wurde mir klar, dass all die weinenden Leute … das Baby weitergereicht hatten. Sie alle hatten, wie meine Eltern, zu seinem Tod beigetragen.«
Es ist still. Die lecke Spülung tropft. Nebenan in der Jungentoilette rauscht eine Spülung, und das Geräusch hallt hohl im Mädchenklo wider.
»Man sollte Babys, die vor der Tür liegen, nicht weiterreichen«, sagt Lev schließlich.
»Man sollte Babys gar nicht erst storchen«, entgegnet Risa.
»Man sollte viele Dinge nicht tun«, sagt Connor. Lev und Risa haben beide recht, aber das macht keinen Unterschied. In einer perfekten Welt würden alle Mütter ihre Babys wollen, und Fremde würden den Ungeliebten ihre Türen öffnen. In einer perfekten Welt wäre alles entweder weiß oder schwarz, richtig oder falsch, und jeder würde den Unterschied erkennen. Aber die Welt ist nicht perfekt. Das Problem sind die Menschen, die denken, sie wäre es.
»Egal, ich wollte nur, dass ihr es wisst.«
Wenige Augenblicke später klingelt es, und im Flur breitet sich Unruhe aus. Die Toilettentür geht quietschend auf. Mädchen lachen und reden über alles und nichts.
»Zieh nächstes Mal ein Kleid an.«
»Kann ich dein Geschichtsbuch leihen?«
»Unglaublich, dieser Test.«
Die Tür hört nicht auf zu quietschen, und dauernd rüttelt jemand an Connors verschlossener Kabinentür. Aber niemand ist groß genug, um von oben hineinzuspähen, und niemand hat Lust, sich zu bücken und unten durchzuschauen. Es klingelt wieder, und das letzte Mädchen rennt eilig in den Unterricht. Zweite Stunde. Wenn sie Glück haben, gibt es in dieser Schule am Vormittag eine größere Pause. Vielleicht können sie sich dann hinausschleichen. Das Baby in Risas Kabine wird langsam unruhig und gibt Geräusche von sich, als würde es bald aufwachen. Es schreit nicht, aber stößt schnalzende Laute aus, als wäre es kurz davor, vor Hunger zu weinen.
»Sollen wir die Kabinen tauschen?« fragt Risa. »Wer häufiger kommt, schöpft vielleicht Verdacht, wenn meine Füße immer in derselben Kabine zu sehen sind.«
»Gute Idee.« Connor lauscht angestrengt, um sicherzustellen, dass im Flur keine Schritte nahen. Dann öffnet er die Tür und tauscht mit Risa den Platz. Levs Tür steht auch offen, aber er kommt nicht heraus. Connor stößt die Tür ganz auf. Er ist nicht da.
»Lev?« Er schaut Risa an, aber die schüttelt nur den Kopf. Sie überprüfen jede Kabine, und auch noch einmal die, in der Lev gewesen ist, als ob er wieder erscheinen könnte. Aber Lev ist weg. Und das Baby fängt an, aus vollem Hals zu schreien.
15. Lev
Bestimmt zerspringt das Herz in seiner Brust.
Es zerspringt, und er stirbt, hier auf dem Flur der Schule. Mit dem Klingeln aus der Toilette zu schlüpfen war nervenaufreibend. Er hatte seine Kabine entriegelt, und die Hand zehn Minuten lang auf dem Türgriff gelassen, während er auf das elektronische Summen der Klingel wartete, die das Öffnen der Kabinentür übertönen sollte. Dann musste er bis zur Toilettentür kommen, ohne dass die beiden anderen seine Schritte auf dem gefliesten Boden hörten. Aber die quietschende Tür einfach zu öffnen und hinauszugehen, wäre zu auffällig. Also wartete er, bis ein Mädchen, das aufs Klo musste, das für ihn erledigte. Es dauerte nur ein paar Sekunden. Sie zog die Tür auf, und er drängelte sich an ihr vorbei in der Hoffnung, sie würde nichts sagen, das ihn verriet. Wenn sie eine Bemerkung dazu machte, was ein Junge auf dem Mädchenklo zu suchen hatte, wären Connor und Risa gewarnt.
»Zieh nächstes Mal ein Kleid an«, sagte das Mädchen zu ihm, als er davoneilte, und ihre Freundin lachte. Reichte das, um Connor und Risa auf seine Flucht aufmerksam zu machen? Er hatte sich nicht umgedreht, sondern war einfach weitergerannt.
Jetzt hat er sich in den Fluren der riesigen Schule verirrt, und sein Herz droht jeden Augenblick zu zerspringen. Um ihn herum laufen in wildem Durcheinander Schüler und Schülerinnen in ihre Klassen, sie prallen mit ihm zusammen und verwirren ihn nur noch mehr. Die meisten sind größer als Lev. Das ist beeindruckend und einschüchternd zugleich. So hat er sich die Highschool immer vorgestellt – als einen gefährlichen Ort mit vielen Geheimnissen und brutalen Jugendlichen. Beunruhigt hat ihn das nicht, denn er würde ja nie eine Highschool besuchen. Nicht einmal die achte Klasse musste er
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