Vollendet (German Edition)
ganz hinter sich bringen.
»’tschuldigung, kannst du mir sagen, wo das Sekretariat ist?«, fragt er einen Schüler, der ein bisschen langsamer unterwegs ist.
Der Junge schaut auf Lev herunter, als käme er vom Mars. »Das weißt du nicht?«, sagt er und geht kopfschüttelnd weiter. Ein freundlicherer Junge zeigt Lev den Weg.
Lev muss die Dinge wieder auf Kurs bringen. Und eine Schule ist dafür der beste Ort. Wenn Connor und Risa tatsächlich getötet werden sollen, dann bestimmt nicht hier, wo so viele Jugendliche sind, und wenn er alles richtig macht, dann wird es gar nicht passieren. Dann sind sie nämlich bald alle drei wieder auf dem Weg zum Ernte-Camp. Wie es sein sollte. Wie es bestimmt war. Der Gedanke ängstigt ihn zwar immer noch, aber diese vergangenen zwei Tage, in denen er nicht wusste, was die nächste Stunde bringen würde, waren wirklich entsetzlich gewesen. Etwas Schlimmeres, als seiner Bestimmung entrissen zu sein, hat Lev nie erlebt, aber jetzt begreift er, warum Gott es geschehen lässt. Es ist eine Lektion. Sie soll Lev zeigen, was mit Kindern passiert, die ihr Schicksal infrage stellen: Sie verlieren jede Orientierung.
Er betritt das Schulsekretariat und wartet, bis man ihn bemerkt, aber die Sekretärin ist zu sehr mit ihren raschelnden Papieren beschäftigt.
»Verzeihung …«
Endlich schaut sie auf. »Kann ich dir helfen, mein Lieber?«
Er räuspert sich. »Ich heiße Lev Calder. Ich bin von zwei ausgerissenen Wandlern entführt worden.«
Die Frau, die ihm zunächst gar nicht richtig zugehört hat, wird auf einmal sehr aufmerksam. »Was hast du gesagt?«
»Ich bin entführt worden. Wir haben uns in einer Toilette versteckt, aber ich konnte entkommen. Sie sind immer noch dort. Ein Baby ist auch dabei.«
Die Frau steht auf und ruft – mit zitternder Stimme, als hätte sie einen Geist vor sich – nach dem Direktor. Der Direktor ruft nach dem Sicherheitsdienst.
Eine Minute später sitzt Lev im Krankenzimmer, und die Krankenschwester verhätschelt ihn, als hätte er hohes Fieber.
»Hab keine Angst«, flötet sie. »Was immer passiert ist, jetzt ist es vorbei.«
Lev hat keine Ahnung, ob sie Connor und Risa schon geschnappt haben. Hoffentlich werden sie dann nicht hierher gebracht. Beim Gedanken daran, ihnen gegenübertreten zu müssen, schämt er sich. Wenn man das Richtige tut, sollte man sich nicht schämen müssen.
»Die Polizei ist alarmiert. Alles wird gut.«, plappert die Krankenschwester weiter. »Du darfst bald nach Hause.«
»Ich fahre nicht nach Hause«, antwortet er. Die Krankenschwester wirft ihm einen merkwürdigen Blick zu, und er beschließt, das nicht näher zu erläutern. »Egal. Kann ich meine Eltern anrufen?«
Sie schaut ihn ungläubig an. »Hat das etwa noch niemand gemacht?« Sie schaut zu dem Schultelefon in der Ecke, zieht aber dann stattdessen ihr Handy aus der Tasche. »Ruf sie an und sag ihnen, dass es dir gut geht. Lass dir ruhig Zeit.«
Sie mustert ihn einen Augenblick und verlässt dann den Raum. »Ich bin gleich nebenan, falls du mich brauchst.«
Lev wählt, hält aber plötzlich inne. Nicht mit seinen Eltern möchte er sprechen. Er löscht die Nummer und tippt eine andere ein. Nach kurzem Zögern drückt er auf »Wählen«.
Beim zweiten Klingeln wird abgenommen.
»Hallo?«
»Pastor Dan?«
Nur den Bruchteil einer Sekunde lang herrscht Schweigen, dann erkennt ihn Pastor Dan.
»Meine Güte, Lev? Bist du das? Wo steckst du?«
»Ich weiß es nicht. In einer Schule. Hören Sie, Sie müssen meinen Eltern sagen, dass sie die Polizei aufhalten! Ich möchte nicht, dass sie getötet werden.«
»Langsam, Lev. Ist bei dir alles in Ordnung?«
»Sie haben mich entführt, aber sie haben mir nichts getan, deshalb möchte ich auch nicht, dass ihnen etwas geschieht. Mein Vater soll die Polizei zurückpfeifen!«
»Ich weiß nicht, wovon du redest. Wir haben die Polizei gar nicht eingeschaltet!«
Das hat Lev nicht erwartet. »Sie haben was …?«
»Deine Eltern wollten die Polizei alarmieren. Sie wollten eine große Sache daraus machen, aber ich habe sie dazu überredet, es nicht zu tun. Ich habe sie davon überzeugt, dass deine Entführung irgendwie Gottes Wille war.«
Lev schüttelt den Kopf, als könne er so den Gedanken loswerden. »Aber … warum haben Sie das getan?«
Pastor Dan klingt langsam verzweifelt: »Lev, hör mir zu. Hör mir genau zu. Niemand weiß, dass du weg bist. Alle wissen nur, dass du geopfert worden bist, und nach Zehntopfern
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