Vollendet (German Edition)
sehen misstrauisch und verängstigt aus. Roland ist immer noch der größte, und er festigt seine Stellung, indem er einen Jungen zur Seite rücken lässt, obwohl noch genügend freie Plätze da sind.
Der Lieferwagen ist eine harte, kalte Metallkiste. Früher gab es noch eine Gefriertruhe, aber die ist zusammen mit dem Eis verschwunden. Dennoch ist es furchtbar kalt und es riecht nach verdorbener Milch. Der Fahrer wirft die Hecktür zu und verschließt sie, wodurch das Weinen des Babys verstummt. Risa glaubt, es dennoch durch die geschlossene Tür zu hören, aber wahrscheinlich bildet sie es sich nur ein.
Der Eiswagen rumpelt über die holprigen Straßen und schwankt so stark hin und her, dass sie mit dem Rücken dauernd gegen die Wand stößt.
Risa schließt die Augen. Dass sie das Baby tatsächlich vermisst, macht sie wütend. Es hätte ihr in keinem schlechteren Moment ihres Lebens in den Schoß fallen können – warum sollte sie Bedauern darüber empfinden, es losgeworden zu sein? Sie denkt an die Zeit vor dem Heartland-Krieg, als ungewollte Babys nichts als ungewollte Schwangerschaften waren, die man rasch beendete. Ging es den Frauen, die sich für einen Abbruch entschieden, so wie ihr jetzt? Waren sie erleichtert und befreit von einer unwillkommenen, ungerechten Verantwortung? Empfanden sie auch ein unbestimmtes Gefühl des Bedauerns?
Als sie sich im Waisenhaus um die Säuglinge kümmerte, hatte sie oft über solche Dinge nachgedacht. Der Kleinkindertrakt war riesig und vollgestellt mit lauter gleich aussehenden Gitterbettchen. In jedem Bett lag ein Baby, das niemand gewollt hatte, ein Mündel eines Staates, der es kaum ernähren, geschweige denn aufziehen konnte.
»Du kannst die Gesetze nicht ändern, ohne zuvor die Natur des Menschen zu ändern«, sagte eine der Schwestern oft, wenn sie den Blick über die vielen schreienden Babys schweifen ließ. Sie hieß Greta. Und wenn sie so etwas sagte, war bestimmt eine andere Schwester in Hörweite, die dem System näherstand und ihr entgegnete: »Du kannst die Natur des Menschen nicht ändern, ohne zuvor das Gesetz zu ändern.« Aber Schwester Greta ließ sich nicht auf einen Streit ein. Sie schnaubte nur und ging davon.
Risa fragte sich oft, was schlimmer war: Viele Zehntausend Babys zu haben, die niemand wollte, oder sie heimlich loszuwerden, noch bevor sie überhaupt geboren werden? Je nach Tag fiel Risas Antwort unterschiedlich aus.
Schwester Greta war alt und erinnerte sich noch an die Zeit vor dem Krieg, aber sie sprach selten davon. All ihre Aufmerksamkeit galt ihrem Beruf, der anstrengend war, denn eine einzige Schwester war für fünfzig Babys verantwortlich. »An einem Ort wie diesem musst du Triage praktizieren«, sagte sie und meinte damit, dass sie in einer Notsituation die Entscheidung treffen musste, in welcher Reihenfolge die Babys medizinisch versorgt wurden. »Liebe diejenigen, die du lieben kannst, und bete für den Rest.« Risa nahm sich den Rat zu Herzen und suchte sich eine Handvoll Lieblinge aus, um die sie sich besonders kümmerte. Sie gab ihnen Namen, statt vom Computer per Zufallsgenerator einen ausspucken zu lassen. Risa gefiel der Gedanke, dass ihr ein Mensch, nicht ein Computer ihren Namen gegeben hatte. Schließlich war ihr Name nicht besonders geläufig. »Das ist die Kurzform von sonrisa «, hatte ein Mädchen spanischer Herkunft ihr einmal erklärt. »Und das ist das spanische Wort für ›Lächeln‹.« Risa wusste nicht, ob spanisches Blut in ihren Adern floss, aber sie stellte es sich gern vor. Es verband sie mit ihrem Namen.
»Woran denkst du?«, fragt Connor. Er reißt sie aus ihren Gedanken und bringt sie in die unbehagliche Wirklichkeit zurück.
»Geht dich nichts an.«
Connor scheint nachdenklich auf einen großen Rostfleck an der Wand zu starren. »Ist die Sache mit dem Baby okay?«
»Natürlich.« Ihr Ton ist absichtlich ruppig, als ob sie schon die Frage als Beleidigung empfände.
»Hannah wird ihr ein gutes Zuhause geben«, sagt Connor. »Ganz sicher besser als wir und besser als diese knopfäugige Kuh, die gestorcht wurde.« Er zögert einen Augenblick. »Das Baby mitzunehmen war ganz großer Mist, ich weiß, aber für uns war es dann doch okay, oder? Und für das Baby ist es ganz sicher besser so.«
»Mach nie wieder so einen Scheiß.« Mehr sagt Risa nicht.
Roland, der weiter vorn sitzt, wendet sich an den Fahrer: »Wohin fahren wir?«
»Du fragst den Falschen«, kommt die Antwort. »Sie geben mir eine
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