Vollendet (German Edition)
außer Risa, aber Risa zählt nicht. Risa und er haben keine Beziehung, sie sind nur zwei Menschen, die sich an denselben Felsvorsprung klammern und hoffen, nicht hinunterzufallen. Nachdem Connor ungefähr drei Zeilen geschrieben hat, knüllt er das Papier zusammen. An Ariana zu schreiben erscheint ihm sinnlos. Sosehr er sich auch dagegen sträubt, weiß er, an wen er diesen Brief richten muss.
Er drückt die Spitze des Stifts auf ein neues Blatt und schreibt: Liebe Mom, lieber Dad …
Es dauert fünf Minuten, bis er eine zweite Zeile geschrieben hat, aber dann sprudeln die Worte – in merkwürdige Richtungen. Zuerst sind sie zornig. Wie konntet ihr? Warum habt ihr? Was sind das für Menschen, die ihrem Kind so etwas antun? Aber ab der dritten Seite werden sie sanfter. Er schreibt von all den guten Dingen, die in ihrem gemeinsamen Leben passiert sind. Zuerst schreibt er sie auf, um seine Eltern zu verletzen und um ihnen klarzumachen, was sie weggeworfen haben, als sie die Verfügung für ihn unterzeichneten. Aber dann geht es immer mehr um Erinnerungen oder eigentlich darum, sie dazu zu bringen, sich selbst zu erinnern, damit alles festgehalten wird, was wert ist, festgehalten zu werden, wenn er … falls er nicht mehr da wäre. Als er angefangen hatte zu schreiben, wusste er, wie der Brief enden würde. Ich hasse euch dafür, was ihr getan habt. Niemals vergebe ich euch. Aber als er endlich auf Seite zehn angelangt ist, schreibt er: Ich liebe euch. Euer ehemaliger Sohn Connor.
Noch bevor er mit seinem Namen unterzeichnet, spürt er die Tränen kommen – nicht aus seinen Augen, sondern scheinbar ganz tief unten aus seinem Bauch. Mit aller Macht brechen sie hervor, es tut weh, in seinem Magen, in seiner Lunge. Seine Augen quellen über, und der Schmerz in seinem Innern ist so gewaltig, dass Connor glaubt, er werde ihn auf der Stelle umbringen. Aber er stirbt nicht, und nach einer Weile legt sich der Orkan. Zurück bleibt eine völlige Erschöpfung in allen Muskeln und Gliedern seines Körpers. Er fühlt sich, als brauche er Sonias Stock, um überhaupt gehen zu können.
Seine Tränen haben die Seiten durchnässt, aber die Tinte ist nicht verschmiert. Er faltet die Seiten und steckt sie in den Umschlag, den er verschließt und adressiert. Dann wartet er noch ein paar Minuten ab, um sicherzugehen, dass der Sturm nicht zurückkehrt, und läutet die kleine Glocke.
Einen Augenblick später betritt Sonia den Raum. Wahrscheinlich hat sie die ganze Zeit direkt auf der anderen Seite des Vorhangs gewartet. Bestimmt hat sie sein Schluchzen gehört, aber sie sagt nichts. Sie betrachtet den Brief, wiegt ihn in ihrer Hand und zieht beeindruckt die Augenbrauen hoch: »Hattest eine Menge zu sagen, was?«
Connor zuckt nur die Achseln. Sie legt den Brief wieder mit der Vorderseite nach unten auf den Schreibtisch. »Jetzt schreib ein Datum auf die Rückseite. Das Datum deines achtzehnten Geburtstages.«
Connor stellt keine Fragen mehr, sondern tut, worum sie ihn bittet. Dann nimmt sie den Umschlag. »Ich bewahre diesen Brief für dich auf. Du musst mir versprechen, dass du hierher zurückkommst und ihn abholst, wenn du bis achtzehn überlebst. Versprichst du mir das?«
Connor nickt. »Ich verspreche es.«
Sie wedelt mit dem Brief vor seinem Gesicht herum, um ihm ganz deutlich zu machen, was sie sagen will. »Ich behalte ihn bis ein Jahr nach deinem achtzehnten Geburtstag. Wenn du nicht zurückkommst, gehe ich davon aus, dass du es nicht geschafft hast. Dass du umgewandelt worden bist. In diesem Fall schicke ich ihn ab.«
Dann gibt sie ihm den Brief zurück, steht auf und geht zu dem alten Koffer, der über der Falltür steht. Sie öffnet den Schnappverschluss und klappt den Deckel auf: Umschläge kommen zum Vorschein, Hunderte von Umschlägen, die den Koffer fast bis zum Rand füllen.
»Lass ihn hier«, sagt sie. »Hier ist er sicher. Wenn ich sterbe, bevor du zurückkommst, kümmert sich Hannah um den Koffer. Sie hat es versprochen.«
Connor denkt an all die Jugendlichen, denen Sonia geholfen haben muss, um an so viele Briefe zu kommen, und eine neue Woge von Gefühlen erfasst ihn. Weinen muss er nicht, aber er wird innerlich ganz sanft: »Sie haben hier etwas Wunderbares getan.«
Sonia wedelt mit der Hand, um den Gedanken zu verscheuchen. »Du denkst, das macht eine Heilige aus mir? Ich will dir eines sagen: Ich hatte ein recht langes Leben und ich habe auch viele ziemlich schlimme Dinge getan.«
»Das ist mir egal.
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