Vollendet (German Edition)
»Wenn du aus der Haut fährst, geben sie sie womöglich jemand anderem, bevor du wieder zurück bist.«
»Verpisst euch, alle beide!« Mai versucht Hayden zu boxen, aber er weicht ohne Probleme aus. Da taucht Roland hinter seinem Bücherregal auf.
»Was ist hier los?«
»Nichts«, sagt Hayden. »Wir erzählen uns nur Geschichten.«
Roland schaut alle drei der Reihe nach an. Er ist sichtlich sauer und misstrauisch, weil hier irgendetwas ohne ihn passiert. »Aha, okay, aber schlaft jetzt. Es ist spät.«
Roland tapst zurück in seine Ecke, doch Connor ist sich sicher, dass er sie nun belauscht, aus Angst, sie könnten sich gegen ihn verschwören.
»Diese Humphrey-Dunfee-Sache«, sagt Mai. »Das ist nur eine Geschichte, oder?«
Connor behält seine Meinung für sich, aber Hayden sagt: »Ich kannte einen Jungen, der behauptete, er hätte Humphreys Leber. Eines Tages verschwand er. Es hieß, er sei umgewandelt worden, aber … vielleicht haben ihn auch die Dunfees geschnappt.« Mit diesen Worten bläst Hayden die Kerze aus und lässt sie alle im Dunkeln zurück.
An Connors und Risas drittem Tag im Keller ruft Sonia alle einzeln nach oben, in der Reihenfolge, in der sie angekommen sind.
»Zuerst der diebische Ochse«, sagt sie und zeigt die Treppe hinunter auf Roland. Offenbar weiß sie von dem geklauten MP3-Player.
»Was der alte Drache wohl will?«, fragt Hayden, nachdem die Falltür wieder zu ist.
»Unser Blut trinken«, sagt Mai. »Uns eine Weile mit ihrem Stock schlagen. Irgendwie so was.«
»Ich wünschte, ihr würdet sie nicht dauernd alter Drache nennen«, sagt Risa. »Sie rettet euch den Arsch, da könntet ihr schon ein bisschen mehr Respekt zeigen.« Sie wendet sich an Connor. »Nimmst du Didi? Meine Arme sind schon ganz lahm.«
Connor nimmt das Baby und hält es ein bisschen geschickter als zuvor. Mai schaut interessiert zu, und er fragt sich, ob Hayden ihr erzählt hat, dass sie nicht die leiblichen Eltern des Babys sind.
Nach einer halben Stunde kommt Roland von seinem Treffen mit Sonia zurück, erzählt aber nichts. Mai schweigt ebenfalls, als sie wieder auftaucht. Hayden braucht am längsten, auch ihm kommt bei seiner Rückkehr kein Wort über die Lippen, was ungewöhnlich ist für ihn. Und beunruhigend.
Connor geht als Nächster. Draußen ist es dunkel, als er oben ankommt, aber er hat keine Ahnung, wie spät es ist. Sonia setzt sich mit ihm in ihr kleines Hinterzimmer und lässt ihn auf einem unbequemen Stuhl Platz nehmen, der bei jeder Bewegung wackelt.
»Morgen gehst du fort von hier«, informiert sie ihn.
»Wohin?«
Sie übergeht die Frage und greift in die Schublade eines alten Schreibtischs. »Ich hoffe, du bist wenigstens halbwegs des Lesens und Schreibens kundig.«
»Warum? Was soll ich lesen?«
»Lesen musst du gar nichts.« Dann zieht sie etliche leere Blätter heraus. »Ich möchte, dass du schreibst.«
»Was, meinen letzten Willen und Testament?«
»Ein Testament setzt voraus, dass du etwas hast, das du weitergeben kannst, aber du hast nichts. Du sollst einen Brief schreiben.« Sie reicht ihm das Papier, einen Stift und einen Umschlag. »Schreib einen Brief an jemanden, den du liebst. Schreib so viel oder so wenig, wie du willst. Das ist mir egal. Aber schreib alles hinein, das du schon immer sagen wolltest, aber mangels Gelegenheit nicht sagen konntest. Hast du verstanden?«
»Und wenn ich niemanden liebe?«
Sie schürzt die Lippen und schüttelt langsam den Kopf. »Ihr Wandler seid alle gleich. Ihr denkt, weil niemand euch liebt, liebt ihr auch niemanden. Also gut, wenn es niemanden gibt, den du liebst, dann nimm jemanden, der hören muss, was du zu sagen hast. Sprich alles aus, was du auf dem Herzen hast, halte nichts zurück. Und wenn du fertig bist, dann leg den Brief in den Umschlag, und verschließ ihn. Keine Angst, ich lese ihn nicht.«
»Was soll das bezwecken? Verschicken Sie den Brief?«
»Tu es einfach, und stell keine Fragen.« Sie stellt eine kleine Essensglocke aus Keramik neben den Stift und das Papier auf den Schreibtisch. »Nimm dir alle Zeit, die du brauchst, und wenn du fertig bist, läute die Glocke.«
Dann lässt sie ihn allein.
Es ist ein merkwürdiges Anliegen, und Connor ist tatsächlich ein bisschen eingeschüchtert. In seinem Innern gibt es Orte, die er einfach nicht betreten möchte. Vielleicht könnte er an Ariana schreiben. Das wäre am einfachsten. Er hat sie gerngehabt. Sie war ihm näher als jedes andere Mädchen. Jedes Mädchen
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