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Vollendet (German Edition)

Vollendet (German Edition)

Titel: Vollendet (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Shusterman
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IQ?«
    Lev seufzt. »Weiß ich nicht. Meine Eltern interessieren sich nicht für Intelligenztests. Das ist so ein religiöses Ding. Für Gott sind alle gleich und so weiter.«
    »Oh – aus so einer Familie kommst du.« CyFi betrachtet Lev interessiert. »Wenn die so superfromm sind, warum wollen sie dich dann umwandeln lassen?«
    Lev würde das Thema am liebsten fallen lassen, aber da CyFi wahrscheinlich der einzige Freund ist, den er hat, kann er genauso gut die Wahrheit sagen. »Ich bin ein Zehntopfer.«
    CyFi reißt die Augen auf, als hätte Lev ihm mitgeteilt, er sei Gott höchstpersönlich.
    »Wahnsinn! Bist du dann irgendwie heilig?«
    »Nicht mehr.«
    CyFi nickt und schürzt die Lippen. Eine Weile sagt er nichts. Die Holzschwellen weichen solchen aus Stein, und der Kies rechts und links der Schienen sieht gepflegter aus.
    »Wir haben gerade die Grenze überschritten«, erklärt CyFi.
    Lev würde ihn gern fragen, in welchem Bundesstaat sie jetzt sind, will sich aber nicht blamieren.
    Jedes Mal, wenn Schienen zusammenlaufen oder sich teilen, steht an der Stelle eine kleine zweistöckige Hütte einsam wie ein Leuchtturm in der Landschaft – ein Weichenhäuschen. An dieser Bahnlinie gibt es jede Menge davon, und dort verbringen Lev und CyFi die Nächte.
    »Hast du keine Angst, dass jemand von der Bahn uns hier findet?«, fragt Lev, als sie vor einer der kümmerlichen Hütten stehen.
    »Nee, die werden ja nicht mehr benutzt«, erklärt ihm CyFi. »Das Bahnsystem läuft automatisch, das ist schon seit Jahren so, aber denen ist es zu teuer, die ganzen Weichenhäuschen abzureißen. Die warten wahrscheinlich, bis die Natur das gratis für sie erledigt.«
    Das Häuschen ist verschlossen, aber ein Schloss ist nur so stark wie die Tür, an dem es hängt – und diese Tür haben Termiten mürbegemacht. Ein Fußtritt, und sie fällt krachend um, eine Wolke aus Staub und toten Spinnen füllt das entstandene Loch.
    Das Obergeschoss besteht aus einem drei mal drei Meter großen Raum mit einem Fenster in jedem der vier Wände. Es ist eiskalt. CyFi hat einen Wintermantel an, der teuer aussieht und ihn in der Nacht wärmt. Lev besitzt nur eine mit dünner Polyesterwatte gefütterte Jacke. Er hat sie neulich im Einkaufszentrum von einem Stuhl geklaut.
    CyFi hat die Nase gerümpft, als Lev die Jacke hat mitgehen lassen, bevor sie das Einkaufszentrum verlassen haben. »Stehlen tut nur der Abschaum«, hat CyFi gesagt. »Wenn du Klasse hast, stiehlst du nicht, was du brauchst. Du sorgst dafür, dass die Leute es dir freiwillig geben – genau, wie ich’s beim Chinesen gemacht hab. Clever musst du sein, und cool musst du sein. Das lernst du schon noch.«
    Levs gestohlene Jacke ist weiß, und er findet sie scheußlich. Sein Leben lang hat er Weiß getragen – das blütenreine Weiß, das seine Bestimmung war –, doch es gibt ihm jetzt keinen Trost mehr.
    Sie essen gut an diesem Abend dank Lev, der endlich auch mal eine Überlebenskünstler-Idee hatte: Sie beinhaltet kleine Tiere, die vom Zug überfahren worden waren.
    »Ich ess keine totgefahrenen Viecher«, hat CyFi gesagt, als Lev von der Idee erzählte. »Nachher gammeln die seit Wochen vor sich hin.«
    »Dann machen wir es anders«, hat Lev erwidert. »Wir gehen ein paar Meilen und markieren jedes Tier mit einem Stöckchen. Wenn dann der nächste Zug kommt, gehen wir wieder zurück. Was nicht markiert ist, muss frisch sein.« Zugegeben, auf den ersten Blick war die Idee ziemlich widerlich, aber im Grunde war es nichts anderes, als auf die Jagd zu gehen – mit einem Dieselmotor als Waffe.
    Sie machen neben dem Häuschen ein kleines Feuer und essen genüsslich gebratenes Kaninchen und Gürteltier. Das Gürteltier schmeckt gar nicht so schlecht, wie Lev befürchtet hat. Fleisch ist schließlich Fleisch, und beim Grillen passiert mit einem Gürteltier nichts anderes als mit einem Steak.
    »Das ist mal eine kreative Problemlösung. Vielleicht bist du doch ein Genie, Fry.«
    Cys Anerkennung tut Lev gut.
    »Hey, ist heute Donnerstag?«, fragt Lev. »Ich glaube, es ist Thanksgiving!«
    »Tja, Fry, wir sind am Leben. Dafür können wir schon mal dankbar sein.«
    In jener Nacht stellt CyFi oben im Weichenhäuschen die große Frage. »Warum haben dich deine Eltern geopfert, Fry?«
    Eine der guten Seiten an CyFi ist, dass er ausgiebig über sich selbst redet. So muss Lev nicht so viel über sein eigenes Leben nachdenken. Außer natürlich, Cy fragt danach. Lev tut so, als schliefe

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