Vollendet (German Edition)
angekommen, schaut er nach links und nach rechts. Von CyFi ist nichts zu sehen. Dann, als er schon fast die Hoffnung aufgibt, hört er ein »Fry?«.
Er dreht den Kopf und lauscht.
»Fry. Hier.«
Diesmal kann er orten, wo es herkommt: ein Spielplatz zu seiner Rechten. Grüner Kunststoff und blau getünchte Eisenstangen. Es sind keine Kinder da. Das einzige Lebenszeichen ist CyFis Schuhspitze, die hinter der Rutsche hervorguckt. Lev klettert durch die Hecke, durchquert den Sand, der den Spielplatz umgibt, und geht um die Rutsche herum, bis CyFi vor ihm auftaucht.
Bei seinem Anblick erschrickt Lev.
Cy liegt zusammengekauert da, die Knie an die Brust gezogen wie ein Baby. Die linke Gesichtshälfte zuckt und die linke Hand schlackert wie Wackelpudding. Sein Gesicht ist verzerrt, als hätte er Schmerzen.
»Was ist? Was ist denn nur los? Sag schon. Vielleicht kann ich dir helfen.«
»Nichts«, faucht CyFi. »Es wird schon wieder.«
Aber für Lev sieht er aus, als läge er im Sterben.
In der zitternden linken Hand hat CyFi die gestohlene Kugel. »Ich hab sie nicht geklaut«, sagt er.
»Cy …«
»ICH HAB GESAGT, ICH HAB SIE NICHT GEKLAUT!« Er schlägt sich mit der rechten Hand gegen den Kopf. »Ich war das nicht!«
»Okay, alles, was du sagst.« Lev sieht sich um, ob sie wirklich unbeobachtet sind.
Cy beruhigt sich ein wenig. »Cyrus Finch stiehlt nicht. Hat er nie getan, wird er nie tun. Ist nicht mein Stil.« Während er diese Worte spricht, hält er den Gegenbeweis in der Hand.
Eine Sekunde später ist er zerstört, denn CyFi schlägt mit der rechten Faust in die linke Handfläche. Die Christbaumkugel zerplatzt. Goldene Glassplitter fallen klimpernd zu Boden. Aus der linken Hand und von den Fingerknöcheln der rechten tropft Blut.
»Cy, deine Hände …«
»Mach dir darum keine Gedanken«, sagt er. »Ich möchte, dass du was für mich tust, Fry. Tu es, ehe ich es mir anders überlege.«
Lev nickt.
»Da drüben liegt mein Mantel. Sieh mal in den Taschen nach.«
CyFis schwerer Mantel hängt ein paar Meter entfernt über dem Sitz einer Schaukel. Lev geht hin, nimmt den Mantel und greift in eine Innentasche. Dort findet er ein goldenes Feuerzeug.
Er holt es heraus.
»Ist es das, Cy? Brauchst du eine Zigarette?« Wenn es CyFi ablenkt, wäre Lev der Erste, der ihm eine anzünden würde. Es gibt wesentlich ungesetzlichere Dinge als Rauchen.
»Sieh in den anderen Taschen nach.«
Lev durchsucht die anderen Taschen nach einer Packung Zigaretten, doch es sind keine da. Stattdessen findet er einen kleinen Schatz. Edelsteinohrringe, Uhren, ein goldenes Halskettchen und ein Diamantarmband schimmern und glitzern selbst bei diesem trüben Licht.
»Cy, was hast du getan …?«
»Ich habe doch schon gesagt, dass ich es nicht war! Jetzt nimm den ganzen Kram und schmeiß ihn weg. Schaff es weg, und lass mich nicht sehen, wo du es hinbringst.« Dann hält er sich die Augen zu wie beim Versteckspiel. »Geh schon, ehe er es sich anders überlegt!«
Lev packt die Sachen vorsichtig mit beiden Händen und läuft zum anderen Ende des Spielplatzes. Er gräbt ein Loch in den kalten Sand, lässt die Sachen hineinfallen und schüttet es zu. Als er fertig ist, glättet er den Boden mit der Kante seines Schuhs und wirft ein wenig Laub darüber. Dann kehrt er zu CyFi zurück, der noch da hockt, wo Lev ihn zurückgelassen hat, die Hände vor den Augen.
»Fertig. Du kannst wieder gucken.« Als Cy die Arme sinken lässt, ist sein Gesicht voller Blut, das aus den Schnittwunden seiner Hände sickert. Hilflos sieht er erst seine Hände an, dann Lev, wie … na ja, wie ein Kind, das sich auf dem Spielplatz weh getan hat. Lev rechnet halb damit, dass er losweint.
»Warte hier«, sagt Lev. »Ich besorge Verbandszeug.« Das wird er stehlen müssen. Er fragt sich, was Pastor Dan zu seiner neuen Angewohnheit sagen würde.
»Danke, Mann«, sagt Cy. »Du hast ein gutes Werk getan, das werd ich dir nie vergessen.« Die Umbra-Melodie ist wieder da. Das Zucken hat aufgehört.
»Ist doch klar«, sagt Lev mit einem beruhigenden Lächeln. Dann macht er sich auf die Suche nach einer Apotheke.
CyFi weiß nicht, dass Lev ein Diamantarmband behalten und in der Innentasche seiner nicht mehr so weißen Jacke verstaut hat.
Lev organisiert ihnen auch einen Platz zum Schlafen. Etwas Luxuriöseres haben sie noch nicht gehabt, denn es ist ein Motelzimmer. Es war gar nicht so schwer: Lev hatte ein heruntergekommenes Motel aufgetan, vor dem nur wenige
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