Vollendet (German Edition)
auch seine leibliche Mutter aufgespürt. Lev fällt ein Dutzend möglicher Gründe ein, warum CyFi nach Joplin will, und wahrscheinlich gibt es noch ein Dutzend weitere, an die er noch nicht gedacht hat.
Die Hauptstraße von Scottsburg soll wohl malerisch wirken, sieht aber einfach nur öde aus. Es ist später Vormittag, als sie durch die Stadt gehen. Die Restaurants bereiten sich auf die Mittagsgäste vor.
»Und, willst du deinen Charme einsetzen und uns ein Gratisessen besorgen, oder bin ich dran?« Lev dreht sich zu Cy um, doch der ist nicht mehr da. Lev sieht gerade noch, wie sich eine Ladentür schließt. Es ist ein Geschäft für Weihnachtsschmuck, und das Schaufenster ist grün und rot dekoriert, mit Plastikrentieren und künstlichem Schnee. Lev hat keine Ahnung, was Cy dort wollen könnte, aber als er durch die Scheibe späht, ist er tatsächlich drin und sieht sich um. Nach CyFis merkwürdigem Verhalten bleibt Lev nichts anderes übrig, als auch in den Laden zu gehen.
Drinnen ist es warm und riecht nach künstlichem Kiefernaroma. Es ist der Geruch, den man von den Duftspendern in Tannenform kennt. Überall stehen Weihnachtsbäume aus Aluminium herum, jeder ist unterschiedlich geschmückt. In einer anderen Zeit und an einem anderen Ort wäre Lev gern durch so einen Laden geschlendert.
Die Verkäuferin hinter dem Tresen beäugt die beiden misstrauisch. Lev packt Cy an der Schulter. »Komm schon, gehen wir.« Doch Cy schüttelt seine Hand ab und geht zu einem Baum, der mit glitzerndem Gold geschmückt ist. Er sieht die Lichter und das Lametta an wie hypnotisiert. Unter seinem linken Auge ist ein leichtes Zucken zu sehen.
»Cy«, flüstert Lev. »Komm schon, wir müssen doch nach Joplin, weißt du noch? Joplin.«
Aber Cy rührt sich nicht. Die Verkäuferin kommt zu ihnen. Sie trägt einen Weihnachtspulli und hat ein Weihnachtslächeln auf den Lippen. »Kann ich euch helfen?«
»Nein«, sagt Lev. »Wir wollten gerade gehen.«
»Einen Nussknacker«, sagt Cy. »Ich suche einen Nussknacker für meine Mom.«
»Oh, die sind da hinten an der Wand.« In dem Moment, in dem die Frau sich umdreht, pflückt Cy eine goldene Christbaumkugel vom glitzernden Baum und steckt sie sich in die Manteltasche.
Lev starrt ihn fassungslos an.
Ohne ihn eines Blickes zu würdigen, folgt Cy der Frau in den hinteren Teil des Ladens, wo er sich mit ihr über Nussknacker unterhält.
Tief in Lev köchelt Panik hoch, die sich immer weiter nach oben vorarbeitet. Cy und die Frau unterhalten sich noch eine Weile, dann bedankt sich Cy und geht zur Ladentür. »Ich muss mir von zu Hause noch etwas Geld holen«, sagt er in dem Cy-untypischen Tonfall. »Ich glaube, meiner Mom würde der Blaue gefallen.«
Du hast gar keine Mom , liegt Lev auf der Zunge, doch er hält den Mund, denn jetzt will er nur noch unbehelligt aus dem Laden rauskommen.
»Gut«, sagt die Verkäuferin. »Einen schönen Tag noch!«
Cy geht, und Lev folgt ihm dicht auf dem Fuß, falls Cy plötzlich den unwiderstehlichen Drang verspüren sollte, in den Laden zurückzukehren und noch etwas zu stehlen.
Kaum hat sich die Tür hinter ihnen geschlossen, rennt CyFi los. Er läuft nicht einfach nur, sondern er schießt davon, als wolle er aus der eigenen Haut fliehen. Er rennt bis zur nächsten Seitenstraße, biegt ab und läuft weiter im Zickzack durch die Stadt. Autos hupen, und ein Lastwagen mäht ihn beinahe nieder. Er wendet sich willkürlich mal hierhin, mal dorthin, wie ein Ballon, aus dem die Luft entweicht. Dann verschwindet er in einer Gasse.
Hier geht es nicht nur um eine goldene Christbaumkugel. Es muss ein Nervenzusammenbruch sein, ein Anfall, den Lev nicht verstehen kann. Ich sollte ihn einfach ziehen lassen , überlegt Lev. Ich lasse ihn laufen, renne in die andere Richtung und sehe mich nicht mehr nach ihm um . Lev könnte mittlerweile auch allein überleben. Er kennt sich schon ganz gut aus auf der Straße. Er käme auch ohne CyFi zurecht.
Aber da war dieser Ausdruck in CyFis Gesicht, ehe er losrannte. Verzweiflung. Er sah genauso aus wie Connor, als er Lev aus dem bequemen Auto seines Vaters zog. Connor hat er verraten. Mit CyFi wird er das nicht tun.
Mit Schritten, die viel länger und gleichmäßiger sind als CyFis, überquert Lev die Straße und folgt ihm in die Gasse.
»CyFi«, ruft er in gedämpftem Ton, damit ihn die Anwohner nicht hören. »Cy!« Er sieht in Müllcontainern und Türeingängen nach. »Cyrus, wo bist du?« Am Ende der Gasse
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