Vollendet (German Edition)
verabschieden über etwas, das niemand sicher weiß.«
»Das machen die doch dauernd«, sagt Hayden. »Nichts anderes ist das Gesetz: wohl begründete Vermutungen darüber, was richtig und was falsch sein könnte.«
»Das Gesetz geht für mich in Ordnung«, sagt Emby.
»Aber wenn es nicht Gesetz wäre, würdest du es dann immer noch glauben?«, fragt Hayden. »Sag uns doch mal, was du ganz persönlich glaubst, Emby. Beweise uns, dass in deinem Schädel mehr steckt als nur Rotz.«
»Du verschwendest deine Zeit«, sagt Connor. »Mehr ist da nicht.«
»Gib unserem verstopften Freund eine Chance.«
Sie warten. Das Triebwerksgeräusch verändert sich. Connor spürt, dass sie langsam sinken, und fragt sich, ob die anderen es auch merken. Dann sagt Emby: »Ungeborene Babys, die lutschen manchmal am Daumen, stimmt’s? Und sie treten mit dem Fuß. Vorher sind sie vielleicht ein Haufen Zellen oder so was, aber wenn sie erst mal treten und am Daumen lutschen – dann haben sie auch eine Seele.«
»Glückwunsch!«, ruft Hayden. »Eine eigene Meinung! Ich wusste, du kannst es.«
In Connors Kopf beginnt sich alles zu drehen. Liegt es am Sinkflug, oder ist es Sauerstoffmangel?
»Connor, wir müssen zugeben, dass Emby irgendwo in seiner schleimigen grauen Masse eine Meinung gefunden hat. Jetzt bist du dran.«
Connor seufzt, denn ihm fehlt die Kraft zur Gegenwehr. Er denkt an das Baby, um das er und Risa sich kurz gekümmert haben. »Wenn es so etwas wie eine Seele gibt – und ich behaupte nicht, dass es so ist –, dann ist sie erst da, wenn das Baby geboren wird. Vorher ist es nur ein Teil seiner Mutter.«
»Nein, ist es nicht!«, widerspricht Emby.
»He, er wollte meine Meinung wissen, und ich habe sie ihm gesagt.«
»Aber das ist falsch!«
»Siehst du, Hayden? Merkst du, was du da angezettelt hast?«
»Ja! Sieht ganz so aus, als stünden wir kurz vor unserem eigenen kleinen Heartland-Krieg. Zu schade, dass wir ihn in dieser Dunkelheit nicht richtig genießen können.«
»Wenn ihr meine Meinung wissen wollt: Ihr liegt beide falsch«, sagt Diego. »So, wie ich das sehe, hat es mit all dem gar nichts zu tun. Es hat mit Liebe zu tun.«
»Oha. Diego wird romantisch. Ich rutsch mal zum anderen Ende des Containers.«
»Nein, ich meine es ernst. Ein Mensch hat erst dann eine Seele, wenn er geliebt wird. Wenn eine Mutter ihr Baby liebt, wenn sie ihr Baby will, dann hat es von dem Moment an eine Seele. Punto! «
»Ach ja?«, sagt Connor. »Was ist dann mit den vielen Babys, die gestorcht werden, oder mit den Kids in den Waisenhäusern?«
»Die müssen darauf hoffen, dass jemand sie eines Tages liebt.«
Connor schnaubt verächtlich, kann aber die Vorstellung nicht völlig von der Hand weisen, ebenso wenig wie die anderen, die er heute gehört hat. Er denkt an seine Eltern. Haben sie ihn je geliebt? Als er klein war, bestimmt. Und nur, weil sie ihn nicht mehr lieben, heißt das doch nicht, dass er keine Seele mehr hat? Obwohl es sich für ihn manchmal so anfühlt. Zumindest ein Teil davon ist gestorben, als seine Eltern die Verfügung unterschrieben haben.
»Diego, das ist wirklich süß«, sagt Hayden in seinem spöttischsten Tonfall. »Vielleicht solltest du später Grußkarten schreiben.«
»Vielleicht sollte ich sie dir ins Gesicht schreiben.«
Hayden lacht nur.
»Du machst dich dauernd über anderer Leute Meinung lustig«, sagt Connor. »Warum rückst du nicht einfach mal mit deiner eigenen heraus?«
»Genau«, sagt Emby wieder.
»Ständig machst du dir einen Spaß daraus, andere gegeneinander auszuspielen. Jetzt bist du mal dran. Wir wollen auch unseren Spaß haben.«
»Genau«, sagt Emby.
»Also, dann sag doch mal: In der Welt, wie Hayden sie sieht, wann beginnt da das Leben?«, fragt Connor.
Es folgt eine lange Pause. Dann sagt Hayden leise, unsicher: »Ich weiß es nicht.«
»Das ist keine Antwort«, beschwert sich Emby.
Connor zupft Emby am Ärmel, um ihn zum Schweigen zu bringen, denn das stimmt nicht. Er kann zwar Haydens Ge-sicht nicht sehen, doch er hört ihm seine Aufrichtigkeit an. Haydens Worte waren nicht ausweichend, sondern ehrlich, ohne die übliche Albernheit. Vielleicht waren es sogar die ersten ehrlichen Worte, die Connor von Hayden gehört hat. »Doch, es ist eine Antwort«, sagt Connor. »Vielleicht ist es sogar die beste Antwort. Wenn mehr Menschen zugeben würden, dass sie es nicht genau wissen, hätte es den Heartland-Krieg vielleicht nie gegeben.«
Ein mechanisches Rütteln
Weitere Kostenlose Bücher