Vollendet (German Edition)
erschüttert den Boden unter ihnen. Emby keucht.
»Das Fahrwerk«, erklärt Connor.
»Ach so.«
In wenigen Minuten werden sie an ihrem Ziel ankommen, wo auch immer das sein mag. Connor versucht abzuschätzen, wie lange sie in der Luft gewesen sind. Anderthalb Stunden? Zwei? Die Richtung, in die sie geflogen sind, lässt sich auch nicht bestimmen. Sie könnten überall sein. Oder vielleicht hat Emby ja doch recht. Vielleicht ist das Flugzeug ferngesteuert, und sie versenken es gleich im Meer, um sämtliche Beweise zu vernichten. Und was ist, wenn es noch viel schlimmer kommt? Was ist, wenn … wenn …
»Und wenn es doch ein Ernte-Camp ist?«, fragt Emby. Diesmal bringt Connor ihn nicht zum Schweigen, weil er gerade genau dasselbe gedacht hat.
Diego antwortet ihm. »Dann sollen meine Finger an einen Bildhauer gehen. Damit er etwas damit schaffen kann, das ewig währt.«
Darüber denken sie alle nach. Als Nächstes spricht Hayden.
»Wenn ich umgewandelt werde, sollen meine Augen an einen Fotografen gehen, einen, der Supermodels fotografiert. Das sollen meine Augen sehen.«
»Meine Lippen sollen an einen Rockstar gehen«, sagt Connor.
»Die Beine hier kriegt ein Olympiasportler.«
»Meine Ohren ein Dirigent.«
»Meinen Magen ein Restaurantkritiker.«
»Meinen Bizeps ein Bodybuilder.«
»Meine Nebenhöhlen wünsche ich niemandem.«
Als das Flugzeug landet, lachen alle vier.
28. Risa
Risa weiß nicht, was in Connors Container gesprochen wird. Sie nimmt an, das die Jungs über Jungssachen reden, was immer darunter zu verstehen ist. Sie hat keine Ahnung, dass dort genau dasselbe Stück aufgeführt wird wie in ihrem eigenen und in jedem anderen Container im Flugzeug. Ängste, Sorgen, Fragen, die selten gestellt werden, und Geschichten, die selten erzählt werden. Die Einzelheiten unterscheiden sich natürlich, ebenso wie die Protagonisten, aber im Wesentlichen ist es überall dasselbe. Niemand wird je wieder darüber reden oder auch nur zugeben, dass er mit anderen darüber gesprochen hat, aber es sind unsichtbare Bande geknüpft worden. Risa hat ein übergewichtiges Mädchen kennengelernt, das immer gleich in Tränen ausbricht, und eines, das nach einer Woche Nikotinentzug völlig überdreht ist. Das dritte ist wie sie ein staatliches Mündel und wie Risa unwissentlich einer Budgetkürzung zum Opfer gefallen. Sie heißt Tina. Auch die anderen haben ihre Namen genannt, aber nur Tinas hat Risa sich gemerkt.
»Wir sind uns total ähnlich«, hat Tina irgendwann während des Flugs gesagt. »Wir könnten Zwillinge sein.« Obwohl Tina umbrafarben ist, muss Risa ihr recht geben. Es ist tröstlich, dass andere in derselben Situation sind wie sie, aber auch beunruhigend, dass ihr eigenes Schicksal nur eins von Tausenden nahezu identischen ist. Natürlich sieht jeder Wandler aus einem staatlichen Waisenhaus anders aus, aber sie haben alle in etwa dieselbe Geschichte. Sie tragen alle denselben Nachnamen. Risa verflucht innerlich den, der einst bestimmt hat, dass alle Waisen Ward heißen sollen, »Mündel« – als wäre es nicht schon Makel genug, eins zu sein.
Das Flugzeug landet, und sie warten.
»Warum dauert das so lange?«, fragt das Nikotinmädchen ungeduldig. »Ich halte das nicht aus!«
»Vielleicht verladen sie uns in einen Lastwagen oder in ein anderes Flugzeug«, sagt das pummelige Mädchen.
»Ich hoffe nicht«, sagt Risa. »Für noch eine Reise haben wir hier nicht genug Luft.«
Sie hören Lärm. Jemand ist neben dem Container. »Schsch«, sagt Risa. »Hört mal.« Schritte, ein Knallen. Sie hören Stimmen, können aber nicht verstehen, was gesagt wird. Dann wird die Tür des Containers einen Spaltbreit geöffnet. Warme, trockene Luft strömt herein. Nach den Stunden der Dunkelheit kommt ihnen das Dämmerlicht im Frachtraum des Flugzeugs vor wie greller Sonnenschein.
»Geht es euch gut da drin?« Es ist keine Tarnkappe, das merkt Risa gleich. Die Stimme klingt jünger.
»Uns geht’s gut«, sagt Risa. »Können wir raus?«
»Noch nicht. Wir müssen erst die anderen Container öffnen, damit alle frische Luft bekommen.« Soweit Risa sehen kann, handelt es sich um einen Jungen in ihrem Alter, vielleicht sogar jünger. Er trägt ein beiges Trägertop und khakifarbene Shorts. Er schwitzt und hat sonnengebräunte Wangen. Nein, nicht gebräunt, verbrannt.
»Wo sind wir?«, fragt Tina.
»Auf dem Friedhof«, erwidert der Junge und geht weiter zum nächsten Container.
Nach wenigen Minuten wird die Tür
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