Vollendung - Thriller
vor seiner Geburt gehabt hatte und die er nie anrühren durfte. Die Statue, die sie ansah, wenn sie ihren Rosenkranz sprach.
Die Pietà, sagte Paul für sich. So hat sie die Statue genannt. Die Pietà.
Ja, da war Maria, in ihre fließenden Gewänder gehüllt, den Blick auf den gekreuzigten Jesus in ihren Armen gerichtet – es war exakt dieselbe Ausführung, die Paul so oft betrachtet hatte, wenn seine Eltern in der Arbeit gewesen waren. Die Erinnerungen waren sofort wieder da: die merkwürdige Erregung zuerst, dann, als er älter war, die Schuldgefühle, wenn er Jesu Körper betrachtete – einen buchstäblich nackten Körper, der selbst bei dem Sechsjährigen schon ein seltsames Regen in seiner Kinderjeans hervorrief.
»Jetzt weiß ich es«, sagte Paul. »Darauf stehst du also. Ist cool. Aber regeln wir erst das Geschäftliche, okay, danach können wir uns dann amüsieren. Okay, Süßer?«
»Psst«, war wieder die Stimme zu vernehmen. »Schau auf den Schirm, o Sohn Gottes.«
Paul wusste, es war Chris – der Kerl aus dem Wagen, der Kerl aus dem Internet. Paul merkte, wie er langsam in Panik geriet – seine Gedanken rasten im Takt mit seinem Puls. Er musste ruhig bleiben, klar denken, gegen das Scheißzeug ankämpfen, das dieses Arschloch ihm eingeflößt hatte. Dann bewegte sich das Bild plötzlich und zoomte auf das Gesicht Jesu zu.
»So ist es gut«, sagte Chris aus der Dunkelheit irgendwo rechts neben Paul. »Schüttle ab deinen Schlaf, o Sohn Gottes.«
So wie es Tommy Campbell drei Monate zuvor auf dem Bestattertisch getan hatte, versuchte Paul, den Kopf zu drehen, den Besitzer der Stimme zu finden, aber er konnte nur das Bild der Statue vor sich sehen, das jetzt eine Nahaufnahme vom Gesicht Jesu zeigte. Es war genau, wie es Paul in Erinnerung hatte, aber besser – viel detailreicher als die billige Souvenirnachbildung seiner Mutter. Ein Gesicht, das heiter war, seinen Frieden mit dem Tod gemacht hatte. Ein Gesicht, das er trotz seiner schrecklichen Angst einfach schön fand.
»Im Ernst, Süßer, ich hab’s kapiert. Wir können tun, was du willst, aber dieses Zeug, das du mir gegeben hast, schmerzt höllisch. Und ich muss mich hintenrum saubermachen, Süßer, wenn du weißt, was ich meine.«
Paul sagte die Wahrheit, was das schmerzliche Pochen in seinen Adern anging, aber es mit dem Kerl treiben? Niemals. Sobald ihn dieser Wahnsinnige losband, war er weg. Er würde ihm mit aller Kraft in die Eier treten und dann zur Tür stürzen. Ja, Paul würde sein Heil lieber nackt in der Flucht suchen. Immerhin merkte selbst Jim, dass dieser Bursche ernsthaft nicht sauber war.
Paul zerrte heftig an den Riemen, als sich das Bild vor ihm wieder zu bewegen begann. Und so wie Tommy Campbell hypnotisiert der Kamerabewegung über den Körper des Bacchus gefolgt war, beobachtete Paul Jimenez jetzt den Schwenk über die Gestalt Jesu – bis hinunter zu der feinen Vertiefung in Seiner Seite, bis zu den kleinen Nagelwunden in Seiner rechten Hand und den Wunden in Seinen Füßen.
Plötzlich – sei es mit dem Instinkt eines Strichers, sei es wegen des Zeugs, das durch seine Adern gepumpt wurde – verstand Paul. Ja, plötzlich wusste Paul mit überwältigender Sicherheit tief in seinem Innern, dass Chris – oder wie der Scheißkerl wirklich hieß – ihn töten wollte.
»Du verdammtes Arschloch!«, schrie er, und kalter Schweiß brach ihm aus. »Lass mich sofort gehen, dann sage ich nichts. Ich habe Freunde. Sie werden wissen, wer du bist, du Scheißtyp. Ich habe ihnen gesagt, wohin ich gehe! Sie finden dich im Computer, du blödes Arschloch!«
Keine Antwort – nur das schmerzhafte Hämmern seines Herzens. Das Bild auf dem Schirm flackerte und veränderte sich, und dann sah Paul nur noch sich selbst, sah nur sein Gesicht, während er sich an seinen Fesseln abmühte. Er hielt nicht inne, um sich Gedanken über den Riemen und die Perücke mit dem langen, gewellten Haar auf seinem Kopf zu machen – mit der er genau wie Jesus aussehen sollte, wie ihm sofort klar wurde.
»Hilfe!«, schrie Paul, als das Bild auf dem Schirm abwärts über seinen Körper zu schwenken begann. »Hilf mir doch jemand!« Paul machte sich nicht die Mühe, nach der Kamera zu suchen, versuchte nicht zu sehen, wer ihn filmte. Nein, in Paul war nur ein einziger Gedanke: Ich muss hier raus, sonst werde ich sterben!
Paul zerrte wie von Sinnen an den Riemen und beobachtete mit hämmerndem Entsetzen, wie die Kamera an seinem Körper
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