Vollmondfieber: Roman (German Edition)
einfach.«
James gluckste. »Na ja, eigentlich haben wir da noch etwas in unserem Speichel, das hilft, eine Frau im Dunkeln zu lassen, wenn wir nicht an einer langfristigen Bindung interessiert sind. Wenn wir mit einer Frau zusammenbleiben oder sie unser Kind trägt, dann entwickelt sie Antikörper und wird immun dagegen.«
Ich würgte. »Was meinst du mit ›etwas in unserem Speichel‹?«
»Unser Speichel enthält eine Droge, die dafür sorgt, dass die Frauen die ganze Geschichte ein bisschen vernebelt erleben und am nächsten Morgen nicht mehr so genau wissen, ob sie mit uns zusammen waren oder nicht. Das ist notwendig. Denn unsere Augen neigen ja dazu, bei heftigeren Emotionen gelb aufzuleuchten. Das macht die Paarung ein bisschen kompliziert.«
»Was zur Hölle …«, ich hustete, nachdem ich meine Eier in den falschen Hals bekommen hatte, »… soll das denn heißen? Das hört sich ja an, als wäre euer Speichel so was wie K.-o.-Tropfen!«
»Denk einfach drüber nach, Jessica! Auf der ganzen Welt gibt es nur wenige Frauen, die genetisch mit uns kompatibel sind, die also überhaupt von uns geschwängert werden können. Und es gibt noch weniger, die imstande sind, ein Baby auszutragen, undnoch weniger, die stark genug sind, die Geburt zu überleben. Um also eine Frau zu finden, die all diesen Kriterien gerecht wird, müssen wir …« James räusperte sich. »Na ja, sagen wir einfach, es sind viele Versuche nötig.«
Ich dachte kurz über seine Worte nach. Das Ganze ergab durchaus Sinn. Trotzdem. »Dann hast du also in den letzten paar Jahrhunderten so einige Versuche gestartet.«
»Ja.«
»Und wie wäre es, wenn du dir eine richtige Gefährtin suchst? Wäre das nicht einfacher, als mit Hunderten von Frauen zu schlafen, die alle von K.-o.-Speichel benebelt sind? Wäre eine echte Gefährtin nicht in der Lage, problemlos deine Kinder auszutragen?« Ich ging zur Spüle, um meinen Teller abzuspülen.
»So heißt es in unseren Überlieferungen. Aber ich habe im Lauf der Jahrhunderte nur wenige Paare zu sehen bekommen.« Plötzlich klang er müde, alt. »Wenn jeder von uns auf eine echte Gefährtin warten würde, würde unsere Art aufhören zu existieren. Auf die Richtige zu warten, ist also ein Luxus, den wir uns nicht leisten können. Ohne Nachfahren wird unsere Spezies aussterben.«
»Gutes Argument.«
»Man braucht keine Lebensgefährtin, um Nachwuchs zu haben«, sagte James. »Man braucht nur ein Mädel, in dessen Genen noch etwas aus einer längst vergangenen Zeit übrig geblieben ist, in der noch viele Dörfer nahe an den Revieren der Rudel gelegen haben. Damals hat es viele Frauen gegeben, die starke Welpen gebären konnten. Dann, im Lauf der Zeit, wurden die Abstammungslinien ausgedünnt, weil der Genpool zu weit gestreut war. Wir verloren die Möglichkeit, uns problemlos fortzupflanzen.« Für einen Moment war James tief in Gedanken versunken. »Damals waren echte Gefährtinnen nicht so wichtig für uns. Wenn eine Frau unser Kind gebar, dann haben wir sie als unsere Gefährtin betrachtet und sie und ihren Sohn behütet.«
Lag da eine Spur von Trauer in diesen letzten Worten? Meines Wissens hatte James nie ein Kind gezeugt. Aber ich war nicht ganz sicher. Ich lebte erst seit sechsundzwanzig Jahren, nicht seit einigen Jahrhunderten. »Eine echte Gefährtin sollte euch aber mehr als nur ein Kind schenken, nicht wahr? Sie sollte in jeder Hinsicht mit deinem Wolf kompatibel sein. Sie kann dir Kinder schenken, und sie kann auch deinen Wolf besänftigen, wie es niemand sonst kann. Soweit ich es verstanden habe, ist sie allein in der Lage, dich davon abzuhalten, dich zu wandeln.«
»Aye. Und der Wolf kann sie in seiner wahren Gestalt aus weiter Ferne erkennen. Sein Blut singt für sie.« James ging zum Spülbecken und ließ Wasser einlaufen. »Das ist das kostbarste Geschenk, das man erhalten kann.«
»Meine Mutter war nicht die echte Gefährtin meines Vaters, oder?« Das hatte ich mich schon immer gefragt. Aber ich hatte nie den Schneid besessen, meinen Vater danach zu fragen. Da ich sie nie kennengelernt hatte, war sie nur ein Fantasieprodukt, gespeist aus einigen wenigen Fotos. Ich war in einer so männlich dominierten Welt aufgewachsen, ich hatte nie die Gelegenheit gehabt, mich allzu genau mit ihr zu beschäftigen. Wäre sie da gewesen, hätte ich mich ganz anders entwickelt. Vielleicht wäre ich sanftmütiger. Wer weiß?
»Das war für Außenseiter nie so ganz klar, nicht einmal am Schluss.«
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