Vollmondfieber: Roman (German Edition)
schon aus diesem Grund hassen. Und die, die bestreiten, dass ich Lykanerin bin, werden mich zu Rangkämpfen herausfordern.
Die Gefühle meines Bruders lagen gleich unterhalb seiner Gedankenebene. In mir manifestierten sie sich als ätherischer Farbbogen. Ich hatte keine Ahnung, dass Denken und Fühlen so ablaufen konnten. Loyales wildes Grün, Purpur für seine Ängste und das Scharlachrot seines Herzens für seine Liebe zu mir. Er hatte keine Worte für mich, aber das Farbenspiel reichte voll und ganz.
Ich schaute vom Tisch auf, und mein Blick traf Hank. Natürlich. Seine Miene wechselte innerhalb einer Sekunde von tiefem Schrecken zu offenem Widerwillen.
Er konnte sich nicht beherrschen und schoss so schnell von seinem Stuhl hoch, dass dessen Beine vernehmlich ein ganzes Stück über den Boden scharrten. »Ich werde von diesem Ding keine Anweisungen entgegennehmen!«, geiferte er und zeigte auf mich. »Ich werde mich nicht von einem Weibchen kommandieren lassen!« Er war so wütend, dass sich der Speichel in seinen Mundwinkeln sammelte.
Mein Vater erhob sich bedächtig von seinem Stuhl, stützte ganz gemächlich die Hände auf den Tisch und beugte sich vor. »Niemand hat dich aufgefordert, Anweisungen von Jessica entgegenzunehmen, Hank Lauder. Ich bin der Alpha dieses Rudels, und ich werde der Alpha bleiben. Es hat keine Machtverschiebung gegeben, und ich erwarte auch keine. Über Lykaner haben wir noch viel zu lernen. Aber ich versichere dir, dass Jessica mich nicht herausfordern wird. Nicht jetzt und nicht in Zukunft.«
Da hast du recht, Dad. Ich konnte deutlich spüren, dass meine Wölfin kein Alphatyp war. Ja, wir waren alphageboren und damit eine Nummer eins; wir waren stark und stur. Die Rudelführerschaft aber erforderte einen ganzen Alpha. Ein ganzer, echter Alpha brauchte die stärkste angeborene Alphapersönlichkeit, gepaart mit Cleverness, Macht und der Kompetenz, die nötig war, um ein Rudel zu führen. Nur weil man alphageboren war, war man nicht zwangsläufig stark genug, um einen Haufen widerspenstiger Wölfe zu bändigen. Keine Ahnung, warum, aber ich war fest davon überzeugt, dass es nicht unserer Rolle entsprach, die Rudelführerschaft zu übernehmen. Meine Wölfin schnappte angewidert in die Luft, dass ihre Zähne klapperten, und verwarfden Gedanken sogleich. Aber irgendetwas entging mir hier. Ich begreife es nicht, dachte ich, wir zwar sind alphageboren, aber keine Alphas. Es ergab alles keinen Sinn.
Elliot Murphy ergriff zum ersten Mal das Wort und unterbrach meinen Gedankengang. Das sommersprossige Gesicht unter dem roten Haar wirkte durchaus freundlich. Aber ich war noch nicht sicher, ob er auf meiner Seite war. »Hören wir doch Jessica an! Sie kann uns selbst sagen, ob sie daran interessiert ist, als Alpha des Rudels über uns zu herrschen.«
Mein Vater sah mich an, und ich erhob mich. Er stand immer noch, und er würde erst Platz nehmen, wenn Hank es tat. »Ich kann jedem hier versichern, dass ich nicht den Wunsch hege, Alpha zu werden.« Mein Ton war klar und ruhig. »Ein Werwolf zu sein, ist für mich sehr, sehr neu. Aber meine Wölfin erkennt meinen Vater uneingeschränkt als den Alpha dieses Rudels an. Ich habe absolut kein Interesse daran, mit meinem Vater um seinen Platz im Rudel zu kämpfen. Niemals.«
»Dann beweise es uns!«, sagte James hinter mir, und in seiner Stimme lag eine Spur Bedauern. »Schwöre es hier und jetzt! Lege einen Blutschwur darauf ab!«
Ich drehte mich zu ihm um, und mein Mund klappte ein Stück weit auf. James’ Miene war ausdruckslos, aber aus dieser geringen Entfernung von gerade dreißig Zentimetern konnte ich stecknadelkopfgroße Bernsteinflecken in seinen Augen flackern sehen.
Ich wusste genau, warum er diesen Vorschlag gemacht hatte. Trotzdem setzte mein Herz den einen oder anderen Schlag aus.
Jetzt musste ich gleich, in diesem Moment, meinen Schwur ablegen. Täte ich es nicht, zögerte ich, würde Panik im Rudel um sich greifen. Noch vor Morgengrauen würde man sicherstellen, dass ich mittels Herausforderung oder anderer Maßnahmen ausgeschaltet würde, sonst drohte Bruderkrieg innerhalb des Rudels. Wäre das einzig Neue gewesen, dass ich mich in einen Werwolf gewandelt hatte, wäre ich vielleicht an all dem vorbeigeschrammt.Aber ein Lykaner? Nein, das war einfach zu viel! Ich durfte den Kain-Mythos nicht wahr werden lassen. Ich wollte verdammt sein, ehe ich die Ursache dafür lieferte, dass das ganze Rudel auseinanderbrach.
Ich ließ es
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