Wohnungstüren im Parterre.
»Wer ist da?«, wisperte Jolin und drehte sich langsam wieder zurück. Ihr Herz hämmerte so laut, dass sie die leise Stimme womöglich überhörte, aber das sollte ihr nur recht sein. Von eiskalter Panik ergriffen, rannte sie los, zwei Stufen auf einmal nehmend und ohne noch ein einziges Mal anzuhalten, bis in die dritte Etage hinauf. Keuchend kam sie an ihrer Wohnungstür an und versuchte noch einmal das Licht einzuschalten, doch obwohl die Kontrollbirnchen in den Schaltern rötlich glimmten, tat sich überhaupt nichts. Die Deckenlampen blieben dunkel. Hektisch zerrte Jolin an den Riemen ihrer Umhängetasche, bis sie ihr in die Armbeuge rutschten. Sie öffnete die Tasche und ließ suchend ihre rechte Hand hineingleiten. Der Schlüssel war im Seiten-fach. Der Schlüssel war immer im Seitenfach. Jolin war der ordentlichste Mensch unter der Sonne, und deshalb würde er auch jetzt ... Der Schlüssel war nicht im Seitenfach!
»Verdammt nochmal, Rouben!«, presste sie hervor. »Was treibst du für ein Spiel mit mir? Ich dachte, es wäre vorbei.«
Tränen traten ihr in die Augen, und in ihrer Verzweiflung hämmerte sie auf den Klingelknopf ein, der jedoch außer dem Klacken, das ihr Schlagen verursachte, keinen Ton von sich gab.
»Da irrst du dich aber gewaltig. Es ist noch lange nicht vorbei«, wisperte die Stimme, und auf einmal wusste Jolin, wo sie herkam: aus ihrem Inneren, aus ihrem Kopf, aus ihren eigenen Gedanken! Genauso wie vor einigen Tagen, als sie auf dem Weg zu Klarisses Party ebenfalls hier durchs Treppenhaus gehastet war. Damals hatte sie dieses Phänomen noch damit abgetan, dass es völlig unmöglich sei, dass sich jemand durch die Gedanken eines anderen äußern konnte, und war einfach weitergelaufen. Jetzt aber war Jolin gefangen. Sie fand ihren Schlüssel nicht an dem Platz, an dem er eigentlich sein sollte. Die Klingel war kaputt. Sie würde die Wohnungstür nicht öffnen können, und sie würde auch ganz sicher nicht wieder raus auf die Straße zurücklaufen, wo es kalt und dunkel war.
Wunderbar! Dann bleibst du eben hier bei mir. Wir werden uns die Zeit schon vertreiben.
Neiiin! Jolin wollte schreien, aber ihr Hals war trocken und ihre Kehle wie abgedrückt. Sie spürte einen eisigen Hauch in ihrem Nacken, und von hinten fuhr eine kalte Hand unter ihren Mantel, schob den Saum ihres Pullis langsam nach oben und berührte ihre nackte Haut.
»Rouben, hör auf! Bitte, lass mich.« Jaulend fuhr Jolin herum und schlug wie wild um sich. Doch das, was sie nicht sehen konnte, was nur in ihren Gedanken und als kriechend schleimige Kälte zu spüren war, ließ sie nicht los. Es lähmte ihren Willen, betastete ihren Körper und küsste ihren Hals. Einen Moment lang glaubte Jolin sogar einen widerlich nach Aas stinkenden Atem riechen zu können.
Das war es also, Roubens anderes Ich, die dunkle Seite, sein Schatten. Jolin schloss die Augen. Innerhalb eines Sekundenbruchteils gab sie ihren Widerstand auf. Vielleicht wollte er sie ja nur zu sich holen. Vielleicht konnte sie auf einer anderen Ebene mit ihm zusammen sein! Wieder flammte in ihrem Herzen dieses brennend heiße Gefühl auf. Es war ein Gemisch aus Sehnsucht und Verzweiflung und noch etwas anderem, das feiner schwang als alles, was Jolin bisher empfunden hatte und das sie langsam und kraftvoll wie eine Meereswelle durchflutete und ihren ganzen Körper wärmte. Die schleimigen kalten Finger glitten wie schmelzendes Eis von ihrer Haut, und der faulige Atem verschwand.
Jolin öffnete die Augen und sah geradewegs in Paulas verwundertes Gesicht. »Was ist los?«, fragte sie. »Warum stehst du hier im Dunkeln herum?«
»Das Licht ist kaputt«, stammelte Jolin. »Und ich konnte meinen Schlüssel nicht finden.«
»Deinen Schlüssel?« Paula schüttelte den Kopf. »Aber den hältst du doch in der Hand.« Völlig konsterniert blickte Jolin an sich herunter. Erst jetzt fühlte sie das kühle Metall zwischen ihren Fingern. Ihre Mutter drückte auf den Lichtschalter. »Und das Treppenhauslicht funktioniert ebenfalls einwandfrei.« Sie zog Jolin in ihre Arme. »Meine arme unglückliche Kleine«, murmelte sie. »Warum willst du dich denn nur nicht trösten lassen?«
original message
from: antonin
to: r. v. (
[email protected])
subject: liebe
vielen dank! das war wirklich ein meisterstück!
antonin
original message
from: r. v.
to:
[email protected] subject: re: liebe
deinen spott kannst du dir sparen, vater.