Vollmondkuss
sagte ihr, dass dies alles nicht mit rechten Dingen zuging, aber ihr Herz brüllte geradezu vor Sehnsucht danach, so viel wie möglich über Vampire, und damit vielleicht auch über Rouben zu erfahren.
»Sehen Sie mich an!«
Jolin gehorchte. Sie konnte nicht mehr unterscheiden, ob ihr Verstand oder ihr Herz oder letztendlich doch etwas anderes gesiegt hatte, aber das war in diesem Augenblick auch gar nicht mehr wichtig. Sie sah nur noch diese Augen und die anthrazitfarbene Iris, die mit einer filigranen schwarzen Verästelung aus tausenden winzig kleiner Sonnen durchzogen war.
»Natürlich gibt es Ausnahmen«, hörte sie die Stimme der Frau sagen, die nun wie aus weiter Ferne zu ihr vor-drang. »Neumondnächte sind solche Ausnahmen und in besonderen Fällen auch Vollmondnächte. Aber das ist ja nichts Neues für Sie, habe ich recht?« Sie lachte leise. »Niemand kann seiner innersten Sehnsucht widerstehen. Weder die Wesen der Nacht noch die des Tages'. Zumeist lenken sie sich ab, indem sie sich mit den banalen Dingen ihres Daseins beschäftigen - so lange, bis der Mond verschwindet. Für die Wesen des Tages ein Grund, sich ans wärmende Feuer zu setzen oder unter dem unwirklichen Licht einer armseligen Lampe sich in ihrer Angst vor dem Unbekannten etwas vorzumachen zu versuchen. Die Wesen der Nacht aber kriechen aus ihren Löchern und suchen die Nähe der Menschen, weil sie sich das Licht herbeisehnen und wenigstens ein wenig von ihrer Wärme und ihrer Liebe kosten wollen, ohne dafür ihr Blut trinken zu müssen. Gelingt es ihnen in einer solchen Nacht, ein Menschenherz zu erobern, bleiben sie für immer in der Zwischenwelt gefangen. Nur eine Vollmondnacht kann sie aus diesem Zustand erlösen. Aber dazu müssen alle Voraussetzungen stimmen. Und das geschieht nur alle eintausendzweihundert Jahre einmal.«
Jolin hatte das Gefühl, sich vollkommen aufgelöst zu haben. Um sie herum war alles schwarz, sie hörte nur noch die Worte der Frau. Sie erinnerte sich, dass sie sich in einem ganz ähnlichen Zustand befunden hatte, als sie vor einigen Tagen mit Rouben am Bahnhof stand und er ihr etwas über seine Herkunft erzählte.
Plötzlich fiel sie nach vorn. Ein harter Stoß traf sie an der Hüfte. Jolin riss die Augen auf und stellte fest, dass sie am Verkaufstresen des Antiquariats stand. Gerade öffnete sich die Bürotür, und Ansgar Lechtewink kam heraus. Er war blass und durchscheinend und ruckelte verlegen an seiner Brille. »Entschuldigen Sie bitte«, sagte er. »Stehen Sie schon lange hier?«
Bis zum späten Nachmittag fuhr Jolin mit Bussen und Straßenbahnen kreuz und quer durch die Stadt und bemühte sich, Ordnung in ihre konfusen Gedanken zu bekommen. Sie hatte versucht, die U-Bahn-Station zu betreten, aber sie brachte es einfach nicht über sich, das Tageslicht zu verlassen und in die Dunkelheit hinunterzusteigen. Außerdem vermied sie es, in die Nähe der Containersiedlung zu kommen. Das Verlangen, nach Hause zu fahren, überfiel sie erst, als es zu dämmern begann.
Die Haustür stand offen, und die Treppenhausbeleuchtung funktionierte diesmal gar nicht. Zudem kam es Jolin vor, als ob es drinnen kälter war als draußen. Vielleicht ist ja jetzt noch die Heizung ausgefallen, dachte sie. Mitten im Winter, das würde passen. Sie ertappte sich sogar dabei, sich einen solchen Defekt herbeizuwünschen, dann hätte sie wenigstens Futter für ihre nach vernünftigen Erklärungen lechzenden Gehirnzellen gehabt.
Noch immer war Jolin sich im Unklaren darüber, ob die Frau in Lechtewinks Antiquariat tatsächlich da gewesen war oder ob sie sie sich nur eingebildet hatte. Vielleicht hatte sie gar nicht hinter dem Tresen gestanden, sondern war im Laden umhergegangen. Jolin hatte sie eine Weile beobachtet, und dann war schlichtweg die Phantasie mit ihr durchgegangen.
»Nein, nein, nein!«, murmelte Jolin energisch, während sie sich am Handlauf in den ersten Stock hinaufzog. »Sie war da! Und sie hat mir dir gesprochen. Hör endlich auf, dir etwas vorzumachen!«
»Braves Mädchen«, hörte sie jemanden sagen. Es war sehr leise, fast ein Flüstern und noch unwirklicher als die verschleierte Frau im Antiquariat, aber dennoch so klar und präsent, dass Jolin keine Chance hatte, an dem Gehörten zu zweifeln. Aus einem Reflex heraus wirbelte sie herum. Aber da war niemand. Hinter sich sah sie nur die gesprenkelten Steinstufen der Treppe, die nach unten führten, die Wände und schemenhaft die hellgrauen Rahmen der
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