und gar nicht egal.«
»Aber du hast doch gerade eben noch gesagt, dass du es nicht willst.«
»Nein, Jolin, das habe ich nicht gesagt«, widersprach Rouben. »Du hörst mir einfach nie richtig zu.«
»Ach ja?«, brach es aus Jolin hervor. Ihr Atem ging stoßweise, und ihre Augen brannten. »Ich hör dir also nicht richtig zu? Und ich verstehe dich auch immer falsch, ja? Ich kapiere eben einfach nicht, was du für ein Spiel mit mir treibst. So ist das, Rouben. Dabei weiß ich doch jetzt alles über dich.«
Rouben schwieg. »Okay«, sagte er schließlich. »Können wir dann nicht einfach Freunde sein?«
Im ersten Augenblick glaubte Jolin, sich verhört zu haben. Dann schossen ihr die Tränen in die Augen. »Du willst mein Freund sein?«, fuhr sie ihn an. »Du hast mir mein Herz gestohlen, Rouben, verstehst du das nicht?« Es rutschte ihr einfach heraus, und bereits eine Sekunde später schämte sie sich schrecklich dafür.
Rouben starrte sie an. Schließlich schüttelte er den Kopf. »Niemand hat irgendjemandem irgendetwas gestohlen, Jolin. Manche Dinge verhalten sich anders, als sie auf den ersten Blick scheinen. Ich habe alles getan, was ich tun konnte, und alles gesagt, was zu sagen war. Ich bin immer bei dir gewesen und war nie gegen dich. Was soll ich tun, wenn du daraus die falschen Schlüsse ziehst?«
Die Stufen der Rolltreppe sanken in den Boden. Jolin stieß mit den Spitzen ihrer Winterboots gegen die feste Stahlblende und stolperte. Rouben umfasste ihren Arm und hielt sie so lange fest, bis sie sicher auf dem Pflaster des Bahnsteigs stand. Erst dann lockerte er seinen Griff.
Jolin riss sich los und rannte der S-Bahn entgegen, die gerade einfuhr. Sie registrierte die kleine Gruppe Mitschüler aus ihrem Geschichtskurs und auch Herrn Gregori, der ihr lächelnd zunickte, kümmerte sich aber nicht darum, sondern zwängte sich rasch zwischen den aussteigenden Fahrgästen hindurch ins Innere der Bahn und suchte sich einen freien Platz am hintersten Ende.
Jolin kramte ein Taschentuch hervor, putzte sich die Nase und wischte anschließend damit über ihre Augen. Sie hatte also angeblich die falschen Schlüsse gezogen. Na toll! Dann war Rouben also nicht der Sohn von Harro Greims und Ramalia, sondern einfach bloß irgendjemand. Vielleicht ein Halbvampir, vielleicht aber auch nicht. Vielleicht war tatsächlich alles, was seit seinem Auftauchen an der Schule passiert war, nur ein Zusammenspiel verrückter Zufälle: irgendeine mutierte Tierart, die Hunde riss und ihnen das Blut aussaugte. Carina, die das beobachtete und dieses Tier im Dunkel der Nacht für einen Menschen hielt. Und Klarisse, die das Gerücht in die Welt setzte, dass dieser Mensch Rouben gewesen sein sollte. Dabei war er möglicherweise einfach nur jemand, der sich geschickt in Szene zu setzen wusste, der haarscharf beobachtete und menschliche Unzulänglichkeiten witterte wie ein Wolf ein hilfloses Reh. Jemand, der geschickt wie ein Jongleur mit Worten balancierte und jede Situation für sich zu nutzen verstand. »Was willst du, Rouben?«, fragte Jolin voller Bitterkeit. »Uns alle nacheinander vernaschen und dann auch noch gut Freund mit jeder bleiben?«
Wütend presste sie die Lippen aufeinander. Sie versuchte Rouben zu verachten, aber es gelang ihr nicht. Sobald sie die Augen schloss, hatte sie seinen Duft in der Nase. Sie sah sein schönes, ebenmäßiges Gesicht und seine dunklen, unergründlichen Augen. Das Quälendste aber war, dass sie noch immer seine Berührungen auf ihrem Körper spürte und es nichts auf der Welt gab, nach dem sie sich mehr sehnte als nach seinen Küssen.
Paula hatte recht, sie war verliebt. Sie war so verliebt in diesen Kerl, dass es sie schier auseinanderriss. Und heute hatte sie es ihm sogar gesagt. Sie hatte sich bis auf die Knochen vor ihm erniedrigt und er, er hatte es abgetan.
Er hatte mit ihr geschlafen, mehr nicht. Wenn sie ihm dafür etwas schenkte, was er gar nicht wollte, war es ganz allein ihr Problem. Er hatte nicht ihr Herz gestohlen. Der falsche Schluss, den sie gezogen hatte, war schlicht und ergreifend der, dass sie auf ihn hereingefallen und davon ausgegangen war, dass er sich ebenfalls in sie verliebt hatte. Jolin spürte, wie ein weiterer Schwall Tränen in ihre Augen trat. »Es ist vorbei«, murmelte sie. »Es ist vorbei. Endgültig aus und vorbei.«
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from: antonin
to: r. v. (
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subject: jolin
und was empfindest du jetzt, mein sohn?