Vollmondkuss
Einzelplatz und zog ihre Geschichtsunterlagen hervor, um sich den Stoff der vergangenen Stunde noch einmal zu vergegenwärtigen. Am Sonntag hatte sie sogar darüber nachgedacht, den Kurs doch wieder gegen Biologie zurückzutauschen. Immerhin war dieser Wechsel gegen ihren Willen geschehen, aber schließlich hatte sie sich eingestehen müssen, dass sie sich im Geschichtskurs tatsächlich besser aufgehoben fühlte, obwohl sie bisher gerade mal vier Unterrichtstunden absolviert hatte.
»Hey«, sagte plötzlich Annas Stimme hinter ihr.
Jolin bog den Kopf zurück. »Hey.«
»Seit wann machst du Schularbeiten in der Bahn?«
»Seit heute«, sagte Jolin, wandte sich ab und schaute wieder auf den Text.
Anna umfasste den Haltegriff, der an der Rückenlehne von Jolins Sitz angebracht war, und schwieg. Doch offenbar hatte sie etwas auf dem Herzen, das sie unbedingt loswerden wollte.
»Hast du schon gehört ... von Carina?«
»Was meinst du?«, fragte Jolin. Vielleicht war Rouben ja doch nochmal auf Klarisses Party zurückgekehrt und hatte mit Carina angebandelt. So, wie er auf ihr Dekolletee gestarrt hatte! »Ist sie etwa die Auserwählte?« Sie blickte auf ihr Buch, als ob sie sich daran festhalten müsse.
»Was für eine Auserwählte?«, erwiderte Anna.
»Na, Roubens.«
»Quatsch«, sagte Anna. »Carina ist verschwunden.«
Jetzt musste Jolin sie doch wieder ansehen. »Wie, verschwunden?«, fragte sie erstaunt.
»Ja, verschwunden eben«, sagte Anna ungeduldig, fast hysterisch. »Sie ist nach der Party nicht nach Hause gekommen.«
»Du spinnst! Davon hätte man doch in den Nachrichten gehört.«
»Eben nicht«, sagte Anna. »Carinas Eltern und die Polizei halten diese Information zurück. Sie wollen, dass der Täter sich sicher fühlt und ...«
»Was redest du denn da!«, entfuhr es Jolin..Plötzlich war ihr eiskalt. »Was für ein Täter?«
»Na ja ...« Anna zuckte die Schultern. »Ist doch logisch.«
»Was, dass sie ermordet wurde?« Jolins Hände umklammerten das Geschichtsbuch auf ihrem Schoß. »Du meinst doch nicht im Ernst, dass ihr tatsächlich etwas zugestoßen ist?«
Anna nickte. »Wir alle meinen das, Jol.«
»Aber das ist doch ...« Jolin stockte. Sie sah Carinas fröhliches Gesicht und hörte ihr ausgelassenes Lachen. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, dass ihr irgendjemand etwas Schlimmes angetan haben könnte. »Ich glaub das nicht«, sagte sie. »Vielleicht ist sie nur ...«
»Was?«
»Na ja, abgehauen. Für ein paar Tage oder so. Vielleicht hat sie sich ja tatsächlich verliebt und macht jetzt irgendetwas Verrücktes.«
Anna stieß ein kurzes Lachen aus. »Das sagst ausgerechnet du.«
Jolin senkte den Blick. Ihre Fingerknöchel traten weiß hervor, so fest hielt sie das Buch noch immer umfasst. »Vielleicht bin ich ganz anders, als ihr alle denkt«, murmelte sie leise.
Anna schien es dennoch verstanden zu haben. Sie löste ihre Hand von der Haltestange und stellte sich nun schräg vor Jolin, sodass sie ihr direkt ins Gesicht sehen konnte. »Schon möglich«, sagte sie. »Klarisse und Rebekka haben auch gesagt, dass du ...« Sie brach ab und hob hilflos die Schultern.
»Klarisse und Rebekka«, erwiderte Jolin heftig. »Was werden die schon groß gesagt haben!«
»Willst du es nun wissen oder nicht?«
»Nicht wirklich.«
»Also doch.«
»Klarisse und Rebekka und alle anderen sind mir völlig egal!«, fuhr Jolin Anna an. »Wann kapierst du das endlich?«
»Jetzt«, sagte Anna leise. »Ich glaube, gerade in diesem Augenblick habe ich es endgültig kapiert. Und genau das ist es auch, was Klarisse und die anderen meinen. Du bist gleichgültig, Jol. Gleichgültig und kalt.«
Es war kein gutes Gefühl, das sich in Jolins Magen aus-gebreitet hatte. Beklommen blickte sie Anna hinterher, die sich nach ihren letzten Worten ruckartig abgewandt hatte und sich nun ihren Weg ans andere Ende des Wagens bahnte.
Klarisse, Rebekka, Melanie und all die anderen hatten ja überhaupt keine Ahnung. Nur weil Jolin ihnen gegenüber - logischerweise! - ihre Gefühle nicht zeigte, war sie doch noch lange nicht gleichgültig und kalt. Wie hatte Anna nur so etwas sagen können! Gerade sie musste es eigentlich besser wissen! Schließlich kannten sie einander lange und gut genug. Natürlich machte Jolin sich Gedanken um Carina, natürlich hatte auch sie die Befürchtung, dass ihrer Stufenkameradin etwas zugestoßen war. Und der Gedanke, dass Rouben damit zu tun haben könnte, machte sie schlichtweg
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