Vollmondkuss
zu spät, überlegte noch, ob sie in eine Nische huschen sollte, fand es dann aber doch zu albern.
Hasserfüllt sah Klarisse zu ihr herüber. Und dann war Rouben auf einmal da. Jolin hatte keine Ahnung, wo er so plötzlich hergekommen war. - Als ob die Dämmerung dieses neblig-grauen Dezembernachmittags ihn einfach ausgespuckt hätte!
Zielstrebig lief er auf Klarisse zu. Jolin bemerkte er augenscheinlich nicht, und Klarisse dachte ganz offensichtlich gar nicht daran, ihn auf die heimliche Beobachterin aufmerksam zu machen. Lächelnd hakte sie sich bei ihm unter und zog ihn mit sich fort auf die angrenzende Baumreihe zu, die die Sporthalle vom Wettkampfplatz trennte.
Wie gebannt starrte Jolin den beiden hinterher. Sie registrierte die Bereitwilligkeit, mit der Rouben Klarisse folgte, und die Vertrautheit, mit der sie sich an ihn schmiegte. Die Geschmeidigkeit seiner Bewegungen gaben ihr die Gewissheit, dass tatsächlich er es gewesen war, den sie vor einer Woche nachts am Südpark in der Bremerstraße gesehen hatte. Jolin schloss die Augen und dachte an Carina. Sie hörte ihr helles Lachen und sah den Ausdruck in Roubens Blick, als er ihr Dekolletee und ihren Hals betrachtete.
Ohne darüber nachzudenken oder es wirklich zu wollen, setzte Jolin sich in Bewegung. Wie an einem unsichtbaren Faden gezogen schlich sie auf die Bäume zu. Mit jedem Schritt klopfte ihr Herz schneller. Der Nebel war dichter geworden und ließ die Bäume mittlerweile nur noch als hohe dunkle Schatten erkennen, die sich quälend langsam aus der drückenden hellgrauen Suppe herausschälten. Rouben und Klarisse schienen vollständig von ihr verschluckt worden zu sein. Trotzdem trieb Jolin die Vorstellung, dass die beiden urplötzlich vor ihr auftauchen könnten, den Angstschweiß auf die Stirn.
Gab es vielleicht doch etwas, das Klarisse und Rouben verband? Kannten sie sich womöglich viel länger und vor allem besser, als sie nach außen hin den Anschein gaben? Und wenn ja, wollte Jolin es überhaupt so genau wissen? - Nein, das wollte sie nicht. Es machte sie wütend. Wütend und hilflos.
Jolin stoppte. Sie wollte sich gerade umdrehen, da vernahm sie eine leise Stimme. »Das ist doch alles überhaupt kein Problem. Du musst nur tun, was ich von dir verlange.« Es war eindeutig Klarisse, die das sagte.
»Und du weißt, dass ich das nicht kann«, hörte Jolin Rouben antworten.
»Das wiederum ist ein Problem«, erwiderte Klarisse. »Allerdings nicht meines.«
»Verdammt nochmal!«, fluchte Rouben. »Warum machst du die Sache so kompliziert?«
Klarisse lachte leise. »Dasselbe könnte ich dich fragen.«
»Du verstehst das eben nicht«, erwiderte Rouben. »Gefühle dieser Art sind dir vollkommen fremd.«
»Wenn du dich da mal nicht irrst«, erwiderte Klarisse. »Ja, das tust du!«, fuhr sie nach einer kurzen Pause, in der keiner von ihnen etwas sagte, fort. »Du bist komplett auf dem Irrweg. Du siehst den Wald vor lauter Bäumen nicht. Ich versuche nur, dich ...«
»Zu retten?«, fiel Rouben ihr ins Wort. Seine Stimme klang höhnisch. »Das kannst du gar nicht. Du nicht.«
»Dann hör endlich auf zu betteln!«, zischte Klarisse wütend.
»Worauf du dich verlassen kannst!«
»Dann, mein Lieber, wird sie es erfahren«, erwiderte Klarisse. »Und nicht nur sie.«
»Tu, was du nicht lassen kannst!«, fauchte Rouben.
Jolins Augen brannten. Die Emotionalität, mit der er auf Klarisses Gehabe reagierte, tat ihr fast körperlich weh. Dann hörte sie plötzlich Schritte im feuchten Gras, und im nächsten Augenblick stand er vor ihr. Jolins Herz machte einen Satz, fast hätte sie aufgeschrien. Rouben sah sie kurz an, dann drückte er die Kragenecken seines schwarzen Mantels zusammen und lief eilig davon.
Die Meldung, dass wieder ein toter Hund mit ungewöhnlichen Bisswunden in der Halsschlagader gefunden worden sei, brachten sie ganz am Anfang der Achtuhrnachrichten.
»Wie erst heute bekannt wurde, entriss in der Nacht vom dreiundzwanzigsten auf den vierundzwanzigsten November ein dunkel gekleideter Mann einer älteren Frau ihren Pudel namens Flocki und zerrte ihn mit sich fort«, verlas Susanne Daubner. »Es geschah in unmittelbarer Nähe des Südlichen Stadtparks. Anwohner vernahmen ein kurz andauerndes Kläffen, das unmittelbar darauf von einem kläglichen Jaulen abgelöst wurde. Die Besitzerin des Pudels rief eine Weile um Hilfe und alarmierte schließlich die Polizei. Ende der letzten Woche wurde der kleine Flocki dann am
Weitere Kostenlose Bücher