Vollmondkuss
versuchte Jolins Blick einzufangen. »Du nicht auch? Schließlich hast du auf der gleichen Seite, direkt hinter mir, gesessen.«
»Nein, hab ich nicht«, log Jolin. »Du musst dich irren.«
»Und du musst zugeben, dass zwei Dinge zusammen genommen äußerst merkwürdig sind.«
»Ach, Pa, hör doch auf«, erwiderte Jolin heftiger, als sie wollte. »Du siehst Gespenster!«
»Und das sagst du, bevor du überhaupt weißt, welche beiden Dinge ich meine?«, entgegnete Gunnar ebenso heftig. »Willst du dir nicht erst einmal anhören, was ich zu sagen habe?«
Jolin stand aus dem Sessel auf. »Ich kann es mir denken.«
»Ach ja?«
»Ja«, sagte Jolin. Sie versuchte auf die Tür zuzulaufen, doch ihr Vater sprang ebenfalls auf und stellte sich ihr in den Weg. »Ich höre?«
»Jetzt beruhigt euch bitte. Alle beide«, mischte Paula Johansson sich ein. »Wenn ihr sehen könntet, wie albern es ist, was ihr da gerade veranstaltet ...«
Gunnar hob die Augenbrauen. »Albern?«, sagte er. »Du findest das hier also albern?«
Paula kreuzte die Arme über der Brust und nickte. »Allerdings.«
»So, dann sag ich dir jetzt mal was!« Gunnar Johansson machte einen Schritt auf seine Frau zu. Jolin versuchte die Gelegenheit zu nutzen und aus dem Wohnzimmer zu fliehen, aber ihr Vater hielt sie mit hartem Griff am Arm zurück. »Du bleibst hier!«
Jolin sah ihn verdutzt an. Damit, dass er eine solche Energie darauf verwandte, ihr seinen Willen aufzuzwingen, hatte sie nicht gerechnet. Es musste ihm wirklich verdammt ernst sein.
»Dann mach es nicht noch spannend, sondern rede endlich«, forderte Paula ihn auf.
Gunnars Nasenlöcher bebten. Jolin sah die Anspannung um seine Mundwinkel, und sie registrierte die winzigen Schweißperlen, die auf seiner Stirn glänzten. Noch immer hielt er ihren Arm fest umklammert und richtete nun seinen Zeigefinger auf sie. »Die Fledermaus war in ihrem Zimmer«, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Und der Hund starb, kurz nachdem sie an ihm vorbeigefahren ist.«
Jolin schnappte nach Luft. »Ich? Du bist ja verrückt!«, hauchte sie.
»Das kann ich nur bestätigen«, sagte Paula. »Nicht nur Jolin ist an dieser unglücklichen Stelle des Südparks vorbeigefahren, sondern wir alle drei. Und wahrscheinlich noch eine ganze Menge anderer Leute.« Sie sog geräuschvoll Luft ein, bevor sie weitersprach. »Außerdem habe ich diese Fledermaus getötet und nicht sie.«
»Ja, ja, ja«, sagte Gunnar Johansson ungeduldig. »Dann hat eben nicht nur Jolin, sondern wir alle etwas damit zu tun. Oder jemand will uns da hineinziehen.«
Paula starrte ihren Mann an. Dann legte sie plötzlich ihren Kopf in den Nacken und fing an zu lachen. »Es ist absurd«, rief sie. »Vollkommen absurd. Mein lieber Schatz, ich fürchte, du bist völlig überarbeitet. Anders kann ich mir diese hanebüchenen Theorien nicht erklären.«
Gunnar sah sie an. Er schob langsam die Unterlippe vor.
Paula lachte immer noch. »Also wirklich, Lieber, Lieber!«, kicherte sie.
Gunnar senkte den Kopf, und Jolin spürte, dass er sich entspannte. Sein Griff lockerte sich, und sie konnte ihren Arm herausziehen. »Vielleicht hast du recht«, sagte er. »Vielleicht bin ich wirklich ... Es ist aber auch besonders viel in diesem Jahr.« Kopfschüttelnd sah er Jolin an. »Entschuldige bitte. Es ist mir schleierhaft, wie ich auf einen solchen Gedanken kommen konnte.«
Mir nicht, dachte Jolin. Eigentlich hätte sie in ihrem Vater einen Verbündeten haben können - wenn sie gewollt hätte.
»Weiß du was«, sagte Paula. »Ich mach uns einen schönen Wein auf. Das wird dich entspannen.«
»Und ich geh schlafen«, sagte Jolin.
»Kommt überhaupt nicht infrage«, widersprach ihre Mutter. »Es ist noch nicht einmal halb neun.« Sie drückte sich aus der Sofaecke, in der sie immer saß, hoch und ging auf den Schrank zu.
»Ich bin müde, Ma«, sagte Jolin. »Und ich möchte keinen Wein.«
»Nur ein halbes Glas«, sagte Paula. »Von dem leichten Roten, den uns Onkel Franz aus Italien mitgebracht hat. In der Küche stehen noch zwei Flaschen, du weißt schon, in dem Karton hinter dem Hochschrank. Ich hole derweil die Gläser aus dem Schrank und suche nach dem Korkenzieher.«
»Der ist in der mittleren Schublade«, sagte Gunnar.
Jolin seufzte. Sie hatte keine Lust, aber sie hatte wohl auch keine andere Wahl. Ihre Mutter würde nicht eher Ruhe geben, bis sie ihnen beiden alles erzählt hatte, was es noch zu erzählen gab.
»Ihr wisst ja
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