Vollmondkuss
Wie in Trance ging sie den Gang bis zur Mitteltür und ließ sich dort auf einen freien Platz sinken. Sie merkte nicht, dass Anna auch da war und offenbar mit sich rang, sie anzusprechen.
»Es geht dir nicht gut, Jol, stimmt’s?«, fragte sie schließlich.
Jolin fuhr zusammen. Sie hob den Kopf und schaute in Annas Gesicht. Sie sah ihre Augen und registrierte das Mitgefühl darin, ohne es wirklich in sich aufzunehmen.
»Es tut mir so leid.«
Jolin schüttelte den Kopf. Sie verstand nicht, was Anna meinte.
»Klarisse hat uns alles erzählt.«
»Was?«
»Na ja, dass du bis zuletzt gehofft hast, dass Rouben dich will und nicht sie.«
Jolin presste die Lippen aufeinander. »Du weißt nichts, Anna. Gar nichts. Spar dir also dein Mitleid, und lass mich in Ruhe. Ich komme bestens allein zurecht.« Es kam ihr so leicht über die Lippen. Sie schaffte es sogar, der verdutzten Anna ins Gesicht zu lächeln, bevor sie auf-stand und bis ganz nach vorn durchging. Es war ohnehin besser, wenn sie Rouben nicht begegnete und vor ihm in der Schule war.
Jolin stellte sich in die Tür. Sie war als Erste auf der Rolltreppe. Sie sah nichts und niemanden. Sie wollte auch keinen sehen, sie lief einfach nur zügig den Bürgersteig entlang. Und dann war er plötzlich neben ihr. Er ging genauso schnell wie sie, blieb mit ihr auf einer Höhe, wandte sich ihr jedoch nicht zu, sondern blickte stur geradeaus.
Jolin hatte das Gefühl, dass ihr Herz zu schlagen auf-hörte. Sie blieb stehen und ließ sich gegen die Hauswand sinken. Der Riemen ihrer Umhängetasche rutschte ihr von der Schulter. Sie senkte den Kopf, als sie merkte, dass ihr die Tränen in die Augen stiegen.
Rouben hatte ebenfalls angehalten. Er stand nun genau vor ihr und sah sie an.
»Worauf wartest du denn?«, presste Jolin hervor. »Hast du immer noch nicht genug? Wie lange willst du mich denn noch quälen? Habe ich meine Mission etwa nicht erfüllt?«
Schweigend schob Rouben seine Hand in die Manteltasche, zog ein Taschentuch hervor und hielt es ihr hin. Jolin wollte seine Hand wegschlagen, doch dann spürte sie die Wärme, die von ihm ausging und die auf schrecklich schmerzende Art die gleiche war, die auch ihr Herz erfüllte, sobald sie nur an ihn dachte.
»Rouben, ich halte das nicht aus.«
Er zögerte einen Moment, dann schob er die Umhängetasche auf ihre Schulter zurück. Jolin schrak unter seiner Berührung zusammen. Sie wollte zurückweichen, doch hinter ihr war die Hauswand, und Rouben stand so dicht vor ihr, dass sie den Duft seiner Haut atmen konnte. Er hob die Hand und tupfte ihr mit dem Taschentuch sanft die Tränen aus den Augen. Seine Pupillen waren groß und schwarz und sein Blick offen und klar. »Ich werde mich woanders hinsetzen«, sagte er. »Ich möchte, dass du das weißt, bevor ich es tue.«
»Was macht das für einen Unterschied?«
Er hob die Schultern, und plötzlich lag etwas Hilfloses in seinem Blick. »Irgendwann wirst du mich verstehen, Jolin«, sagte er leise. »Hoffentlich.« Er schob das Taschentuch in seinen Mantel zurück, wandte sich von ihr ab und ging mit schnellen Schritten auf das Schulgelände zu.
»Ich hab doch längst alles verstanden, Rouben«, murmelte sie. »Ich weiß nur nicht, wie ich damit klarkommen soll.«
Jolin entschied, nicht zur Schule zu gehen. Sie war weder dazu in der Lage, noch brachte sie es über sich, nach Hause zurückzufahren und allein in ihrem Zimmer zu hocken. Eilig schlüpfte sie in einer Seitenstraße in einen Hauseingang. Dort wartete sie, bis ihre Armbanduhr kurz nach acht anzeigte und sie sicher sein konnte, weder Anna noch Klarisse oder einer anderen aus der Clique in die Arme zu laufen. Jolin zwang sich, nicht an Rouben zu denken, sondern sich auf die Überlegung zu konzentrieren, wie zur Hölle sie diesen Tag verbringen sollte.
Als sie aus der Seitenstraße trat, fiel ihr Blick auf die gegenüberliegende Häuserzeile, an deren Ende das Mühlengässchen in den Parkplatz mündete. Die Neugier trieb sie zur nächsten Ampel, an der sie die vierspurige Lessingallee überquerte und zögernd in das Mühlengässchen einbog.
Jolin ging sehr langsam. Ihr Herz klopfte, und ein beklemmendes Gefühl legte sich über ihre Brust. Sie versuchte sich zu erinnern, wann und warum sie diese altertümliche, mit Kopfstein gepflasterte Gasse zum ersten Mal betreten hatte. War es reiner Zufall gewesen, oder hatte sie konkret danach gesucht? Vor drei Jahren, in der neunten Klasse, hatte sie einmal ein Referat
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