Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)
mit ihnen?,
entgegnete die mütterliche Stimme, im Ton gereizter.
Sie haben keinen Lendenschurz. Ihr Gemächt baumelt zwischen ihren Schenkeln herum! Bei jedem Schritt.
Stell dich nicht so an, du bist Wissenschaftler!
Ja, ich weiß, dass viele Völker dieser Welt nackt oder halbnackt durchs Leben laufen.
Hier hast du die Rousseau’sche Lehre sichtbar vor Augen! Den
Beweis für seine Theorie, dass der Mensch nur im Naturzustand glücklich sein kann.
Die mütterliche Stimme war zu einem wütenden Zischen geworden.
Es ist doch in der Theorie oft genug behandelt worden, das Bild vom Edlen Wilden.
Das hier ist keine Theorie mehr, und falls doch, bewege ich mich inmitten dieser Theorie. Und ich kann nicht sagen, ob diese Menschen glücklich sind, aber sie sind so nackt und haben eine enorme physische Präsenz.
Eine Hand legte sich auf Marys Arm, dunkle Finger spielten über den wollenen Stoff ihrer Jacke hinweg. Erschrocken zuckte sie zusammen, schob die Stimmen beiseite und blickte um sich.
Die Eingeborenen umringten die Ankömmlinge, rückten näher und zerrten an der Kleidung, an den Haaren und an den Musketen der Seesoldaten. Drängten die Mannschaft in Richtung zweier Hütten, die in unmittelbarer Nähe im Windschatten einer Felsengruppe errichtet waren. Aus Ästen war ein Geflecht gebogen worden, ein Halbrund, das mit Reisig und Seehundfellen bedeckt war. Spartanisch und kaum als ernstzunehmender Schutz gegen die kühle Witterung zu verstehen.
Einer der Männer trug einen Korb bei sich, der aus Zweigen geflochten war. Kleine Holzspieße, die offensichtlich zum Fischen dienten, schauten daraus hervor. Aus der Tiefe des Korbes hob er einen Fisch, deutete eine Essbewegung an und zeigte zur Hütte hinüber.
Kapitän Taylor, Carl und Mary wurden in die Hütte geschoben, die zu einer Seite hin offen war. Ein Feuer brannte, und nackte Kinder sprangen herum. Zwei Frauen spießten Fisch auf und hielten ihn über die Flammen. Die rundlichere der beiden hatte mit Bändern einen Säugling auf ihren Rücken gebunden.
Der Mann setzte seinen Korb ab. Die Kinder beugten sich darüber, langten nach dem Fisch und brachten ihn zum Feuer. Von der Decke hingen Tierblasen. Die Frau mit dem Säugling auf dem Rücken griff nach einer, füllte sie mit Wasser und überreichte sieCarl, wobei sie demütig den Kopf beugte und ihn nicht ansah. Sie war dunkelhaarig, ihre Haut von tiefer Bronzefarbe.
Immer mehr Männer der Mannschaft wurden zur Laubhütte geführt. Angewidert beobachtete Mary, dass einige von ihnen versuchten, im Gedränge die Leiber der Frauen zu berühren. Doch die schoben die Hände der Männer kichernd von sich und wiesen in die Reisighütte.
Besorgt musterte Mary die Wilden, die sich jedoch am Verhalten der Fremden nicht zu stören schienen. Bis auf wenige Ausnahmen hatten die Männer bemalte Gesichter. Waagerechte Streifen in schwarzer und roter Farbe, die pastos auf der Haut lag und ihnen etwas Bedrohliches verlieh. An den Hand- und Fußgelenken trugen sie Muschelreife, die bei jedem Schritt leise aneinanderschlugen und einen eigenwilligen Kontrast zur Bemalung bildeten.
»Hast du es gesehen?«, flüsterte Carl. »Sie haben keine Boote.«
Mary trat an die Öffnung der Hütte. An der Küste und auch auf dem Wasser war kein Boot auszumachen. Nirgends. Und Kapitän Taylor schien darauf vorbereitet gewesen zu sein, er ließ die Beiboote mit doppelter Wachmannschaft sichern.
»Du hast recht«, entgegnete sie und zuckte zusammen, als sie sich umwandte. Carl war ihr gefolgt, er stand dicht hinter ihr und ließ seinen Blick über die Bucht und das Meer schweifen. Sie räusperte sich. »Mir ist aufgefallen«, setzte sie erneut an, »dass wir hier wahrscheinlich nicht die ersten Besucher sind. Einer der Männer zeigte vorhin auf eine Muskete und bellte auf. Sicherlich, um ein Schussgeräusch zu imitieren. Sie kennen die Kraft unserer Waffen.«
Carl nickte und rührte sich nicht.
Kyle Bennetter zog Marys Aufmerksamkeit auf sich. Er betrat die Hütte, einen schweren Beutel auf dem Rücken, den er behutsam absetzte und öffnete.
Bevor Kapitän Taylor hineinlangen konnte, hielt ihm der Gastgeber die offene Hand entgegen.
Taylor brachte rote Glasperlen zum Vorschein und reichte sie seinem Gegenüber.
Der Mann schaute nicht einmal hin und gab die Perlen an die Männer neben sich weiter. Erneut streckte er die geöffnete Hand vor.
»Sie erwarten Geschenke.« Mary wusste sich nicht zu fassen und schüttelte den
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