Vom Aussteigen und Ankommen
Krankheiten zum Arzt gehen. Ich spülte den bitteren Kräuteralkohol fünf Minuten lang in der linken Wange, er brannte auf der Zunge und im Backeninneren. Gisi schaute zu und lachte wie ein freundliches Teufelchen, zappelte fröhlich mit dem Oberkörper und sagte: »Schwedenbitter rulez.«
Zum Abschluss des Kennenlern-Wochenendes spielte der Seminarleiter am Mittag wieder auf seiner Gitarre. Diesmal sangen wir ein Lied, dessen Text mich an Kinderschlafmusik erinnerte. Es klang so: »Bobo Malek, Bobo Malek, Suschu Maja.« Der Gitarrist schloss seine Augen fest und schwang seinen Körper beim Singen gefühlvoll hin und her. Jetzt müssten wir alle viel mehr spüren als zu Beginn des Seminars, sagte er. Ich spürte Zahnweh und fühlte mich bedrängt. Die Gruppe schien energetisch aufgeladen, ich war müde, der undichte Stöpsel in der Energiebadewanne. Ich betrachtete den todkranken Wolf, der »Bobo Malek« sang, und ich sang dann doch mit. Für Wolf war dieses Singen vielleicht der Höhepunkt seiner letzten Wochen. Er hatte seine Augen fest geschlossen.
Dann kam die Fazitrunde. Der Indianerstab wurde wieder herumgereicht, wer ihn hielt, lobte: »Sehr berührend«, »Die Erlebnisse werden lang nachklingen«, »das Ursprüngliche«, »das Spirituelle«. »Wir sind Gemeinschaft geworden, nicht?«, sagte Wolf. »Ja, toll, Menschen kennenlernen, sich nahekommen«, sagte die lustige Lena.
Das Bedürfnis nach Nähe und Gemeinsamkeit musste wieder sehr groß geworden sein in unserer Zeit, man sah es nicht nur bei Fußballfans. Wir wussten nach zwei Tagen kaum etwas voneinander – außer unseren albern garnierten Vornamen – und waren doch zu einem schwingenden Menschenkreis geworden.
Am Abend würde eine weitere Gästegruppe zusammenkommen, das war meine nächste Chance zum Mitschwingen.
Wir schwitzen gern für die Pferde
Ich freute mich nach dem vielen Reden und Tanzen auf die körperliche Arbeit in der »Pferdebauwoche«. Ich zog in ein Lehmhaus um, in dem neben mir noch zwei weitere Teilnehmer der Arbeitswoche schliefen. Es hieß »Villa Strohbunt«. Das Haus hatte eine friedliche Aura, massive Baumstämme trugen es. Sie waren von außen und innen sichtbar. Es gab über unseren Matratzen im Obergeschoss wenige schwache Leselampen und sonst kein elektrisches Licht. Auch eine Heizung gab es nicht, doch die dicken Lehmwände wärmten, und Wolldecken lagen im Wandschrank.
Meine neuen Mitbewohner waren eine drahtige, ältere Frau mit Kurzhaarfrisur und Hardy, ein junger Kerl, der hier war, um für ein freiwilliges ökologisches Jahr Probe zu arbeiten. Die Frau schlief in der anderen Ecke. Es gab einen Nebenraum, der durch einen Vorhang abgetrennt war; hier zog sie sich abends und morgens um. Hardy lag links neben mir.
Am Montagmorgen gingen wir durchs Dorf und dann einen Hügel hinauf. Es gab Wege, die mit türkisen Steinen am Rand markiert waren, und Wege mit roten Steinen. Die roten Wege zu gehen war für Gäste verboten, sie wurden nur von den echten Ökodorfbewohnern genutzt. Unser Weg in die Fuhrhalterei führte an drei Äckern vorbei, auf denen vereinzelt Menschen in beigefarbenen Westen oder mit Filzhüten Setzlinge pflanzten. Sie sahen aus wie die Tolstojaner im Russland der vorletzten Jahrhundertwende. Oben befand sich die Fuhrhalterei, hier traf sich unsere Gruppe. An der Pferdebauwoche nahm noch ein Dutzend Leute teil, die nachts in Zelten schliefen oder in Wohnmobilen. Wir saßen vor dem Pferdestall im Stuhlkreis und stellten uns einander vor. Diesmal wählten wir die Methode, dass wir uns Tiernamen zu unseren Vornamen ausdachten, die mit denselben Anfangsbuchstaben begannen: Nora Nashorn, Sebastian Seelöwe, Nino Nasenbär, Ole Otter, Hardy Hamster, Nadja Nacktschnecke, Gerd Gans, Jan Jaguar. Die Chefin hieß Silke. Silke Hagmaier war die Pferdespezialistin des Ökodorfs, sie trug ein türkisfarbenes Stirntuch. Ihr Haar wallte über beide Schultern. Obwohl es schon grau war, sah es aus wie leuchtende Sonnenstrahlen auf einer naiven Kinderzeichnung. Silkes Gesicht lachte auch, wie die Sonne lachen konnte, doch trotzdem wirkte sie streng. Von Silke Hagmaier war in dem Film über Sieben Linden zu erfahren, dass sie als Aufnahmeritualhandlung ein Goldamulett am Dorfeingang vergraben hatte, das sie von ihrer Großmutter geerbt hatte. Sie könne die Stelle heute nicht mehr wiederfinden. Es sei ihr wichtig gewesen, die Verhaftung an solche Gegenstände zu verlieren, sagte sie. Nun teilte sie uns mit, dass noch
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