Vom Aussteigen und Ankommen
denn ich war selbst einer.
Die Fuhrhalterei sah aus wie der Pferdehof eines Landadligen im Mittelalter. Drei Ställe aus verwittertem Holz standen auf dem Gelände, zwei dicht beieinander, einer weiter oben am Hügel. Dazwischen weideten sechs Pferde.
Wir Gastarbeiter hatten für die Woche mehrere Aufgaben. Wir sollten alle Querbalken eines morschen Rondells und alle Außenzäune erneuern. Recht häufig mussten sie ersetzt werden, da Silke Hagmaier immer noch auf Holzschutzmittel verzichtete. Das morsche Holz, das wir nun abnahmen, würde zu Brennholz gemacht oder kompostiert werden. Des Weiteren sollten wir einen achtzig Meter langen Graben schaufeln, durch ihn würde später eine Wasserleitung neu verlegt werden, damit die Pferdetränke von der einen an die andere Grenze des Geheges verlegt werden könnte. Dadurch müssten die Pferde von der Futter- zur Wasserstelle einen weiteren Weg laufen als bisher. Das würde sie in Bewegung halten. Der Sinn unserer Knochenarbeit war es also, auch noch den Tieren das Leben schwerer zu machen.
Ich schaufelte am ersten Tag gemeinsam mit meinem Mitbewohner Hardy den Graben aus. Wir mussten aussehen wie zwei Moorarbeiter im siebzehnten Jahrhundert. Hardy, vierundzwanzig und gelernter Motorradtechniker aus Cottbus, suchte nach einer Perspektive. In seinem Ausbildungsberuf hatte er keine. »In Cottbus kannst du nur im Callcenter arbeiten, studieren oder arbeitslos sein«, sagte er. Ein Leben als selbstversorgender Kleinbauer reizte ihn: ehrliche Arbeit, bescheiden. Aber er verstand nichts von Landwirtschaft. Daher überlegte er, hier erst mal ein FÖJ zu machen.
Nach vier Stunden bildete sich eine Blase an meinem Daumen. Ich setzte den Spaten tief in die Erde, atmete ein, schaute herab auf das Dorf und fühlte mich wie ein Siedler in kanadischen Wäldern. Ich spürte den Reiz, den dieses Lebensmodell hatte: sich eine neue Welt in den verlassenen Wäldern bauen. Bon Iver war für ein paar Wochen in eine Waldhütte gegangen, damit ihm ein neues Album einfiele. Es fiel ihm ein, und es war gut. Am Ende des ersten Tages war der Graben einen Meter tief und fünfunddreißig Meter lang. Ich staunte, was wir geschafft hatten. Wenn man nach acht Stunden Arbeit sein Büro verlässt, sieht alles so aus wie sonst. Es fühlte sich gut an, etwas Konkretes geschaffen zu haben.
In dieser Nacht schlief ich wie ein Baby. Meiner Mitbewohnerin Sophie ging es auch so, sie behauptete, das liege an der Freiheit von Strahlen und daran, dass das Lehmhaus atmete, denn es stand im Wald und war aus Wald. Trotz des guten Schlafs schmerzte mein Zahn am nächsten Morgen. Zahnweh – meine Reise zu den Wurzeln. Sophie, die Schlange, legte mir am Frühstückstisch nahe, Nelken zu lutschen, das wirke betäubend. Ich stahl zehn Nelken aus der Küche und lutschte die erste. Nach etwa einer Stunde – wir standen wieder im Graben und schaufelten – ließ das Zahnweh nach. Das Bio-Betäubungsmittel wirkte, es war nicht schlechter als Aspirin. Wie ein Kleinbauer aus Equador, der bei der Kaffeeernte Kokablätter kaut, arbeitete ich mit Hardy weiter.
Am Nachmittag nagelten wir dünne Kiefernstämme quer an Eichenpfähle, der neue Zaun entstand. Wir hämmerten Stunden. Schnell gewöhnte ich mir eine Bewegung an: Ich wendete regelmäßig mit meiner Zunge die Nelke in meiner Backentasche hin und her, damit sie ihre Heilkraft bestmöglich entfalten konnte. Pock, pock, pock, der nächste Kiefernstamm. Die Nelke, mein Kokablatt, wurde herber. Die Luft war kühl, die Arbeit wärmte von innen. So könnte ich Monate weitermachen und Jahre, bis meine Zähne schwarz würden und ausfielen und ich immer mehr von innen her lachen würde. Ich fühlte mich wie ein Arbeiter auf einer Plantage in Kolumbien. Weltoffene Reisende, die anhielten und mir zuschauten, würden ein paar Fragen stellen, wieder in ihre Autos steigen, zurück in ihren Alltag fahren und abends beim Rotwein denken: Vielleicht sind diese Bauern glücklicher als wir.
Von veganem Essen satt zu werden dauerte wie das ökologische Bauen auch länger: Es gab fantasievolle Salate, Rohkost und Samen, Kartoffeln und gekochtes Gemüse, Kürbisecken aus dem Ofen. Dann hämmerten wir wieder eineinhalb Stunden, und schon war Kaffeepause. Eine ältere Dame, die dem Club 99 angehörte, brachte uns Kaffee und köstlichen Rohkostkuchen aus Rosinen, Hanfsamen, Mandeln, Mohn, getrockneten Buchweizenkeimlingen, Sojaquarkcreme und zerriebenen Zitrusschalen, garniert mit Veilchen. Auch
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