Vom Aussteigen und Ankommen
jemand spät am Abend dazukommen werde, der an einem Ritterturnier nahe Berlin teilgenommen habe, Autos ablehne und nun neben seinem Pferd herfahrend auf dem Fahrrad zurückreise.
In der Pferdebauwoche sollten wir keine Pferde bauen, sondern den Pferdestall und die Gehege der Wallache ausbessern, die hier im Ökolandbau als Zug- und Pflugtiere eingesetzt wurden. Einige hatten sich Urlaub dafür genommen. Andere wollten erfahren, ob so ein naturnahes Leben gut für sie sei, wieder andere schätzten die archaische Auszeit vom Büro. Für unsere Mitarbeit bekamen wir den Schlafplatz gratis, für die Verpflegung zahlten wir sechzig Euro. Das Ökodorf profitierte von der Entfremdung der Stadtmenschen: Mal kamen Leute, um im Rahmen von »Einkochwochen« Marmelade zu machen, es gab Gartenbauwochen oder einwöchige Arbeitsdienste für junge Leute (»Jule-Bauwochen«).
Wie eine Gauchoranch in Argentinien lag die Fuhrhalterei in der Landschaft, etwa zweihundert Meter vom Dorf entfernt und leicht erhöht.
Um halb neun begann hier die Arbeit. Sie begann anders als in der Wirtschaftsredaktion der F.A.Z. Wir bildeten einen Kreis und fassten uns an den Händen, schlossen die Augen, atmeten tief ein und aus. Ein, zwei Minuten lang. Dann sangen wir einen Morgenkanon, wie fortan jeden Morgen. Silke sang ihn mit einer hohen Stimme vor, die unerwartet zart klang:
Round and round the earth is turning,
turning, turning round to morning
and from morning round to night.
Der Arbeitsblues war uns eingetrichtert. Im Kopf lief er den ganzen Tag weiter. Sonst gab es nur noch zwei Geräusche: Vogelzwitschern und Hämmern.
Silke gehörte zu den Hardlinern. Die Hardliner aus Sieben Linden waren im »Club 99« organisiert, einer der Nachbarschaften, deren Gründungsmitglieder dreizehn Jahre zuvor begonnen hatten, sich wie Henry David Thoreau vor hundertfünfzig Jahren ganz ohne Strom und elektrische Geräte und nur mit Handarbeit ein erstes Haus zu errichten, die »Villa Strohbunt«. Das naturnahe Bauen war mühsam: Um einen acht Meter langen und etwa fünfzig Zentimeter dicken Baumstamm mit Muskelkraft durchzusägen, brauchten die Frauen und Männer anfangs eine Dreiviertelstunde. Sie bauten schuldlos und ehrlich, so wie die Ausgebeuteten der Dritten Welt. Zu Beginn lief noch einiges schief. Sie hatten auf chemische und natürliche Holzschutzmittel verzichtet, und nach einiger Zeit malmten Holzbockkäfer so laut in den Balken, dass das Geräusch nachts beim Schlafen störte. Silke und ihre Freunde mussten das Gebäude aufwendig retten: Es wurde mit Folie verkleidet und innen auf mehr als sechzig Grad erhitzt. Die Käfer starben, es war keine vegane Heldentat. Das zweite Gebäude bauten die Naturmenschen später mit nassem Holz, weil darin noch keine Käfer sein konnten. Aber etwas anderes Missliches geschah: Die Balken schrumpften, als sie trockneten, und im Lehm der Wände bildeten sich Risse, die jetzt noch da waren.
Nun war der Club milder geworden und setzte auch Maschinen ein. »Sorgenfrei« wollten diese Leute nie werden, im Gegenteil, sie sorgten sich viel, vielleicht mehr um die Menschheit als um sich selbst. Sie zogen Konsequenzen aus dem, was sie als richtig und falsch begriffen, und verzichteten dafür, das Gute zu tun, auf Komfort. Sie waren so gesehen Gegenmodelle zum Bürger.
Als wir alte Holzpflöcke aus der Erde drehten, fragte ich mich, was eigentlich ein Bürger ist. Vielleicht das: ein Mensch, dem Status, materielle Sicherheit und soziale Anerkennung wichtiger sind, als dass er auf ebendiese Dinge verzichtet, um den Weg der Wahrheit zu gehen. Um das zu verschleiern, unternimmt er so allerlei. Etwa behauptet er, es gäbe keine Wahrheit. Das nimmt ihm die Last der Konsequenz und zieht eine angenehme Trennline zwischen ihm und denjenigen, die von der Wahrheit sprechen, denn diese kann er nun als Fanatiker und »gefährlich« bezeichnen oder sie belächeln. Und so ist er selbst fein raus, da er sein eigenes angepasstes Leben im goldenen Licht der Friedfertigkeit erstrahlen lässt und die Notwendigkeit, den Radikalen, ob Ökos, Religiösen, Linken oder Rechten, nur ein Wort zuzuhören, nicht mehr gegeben ist. Er muss nicht aussehen wie ein Bürger aus Heinrich Bölls Zeiten: mit Schlapphut, Ballonhemd und frisch gewichsten Schuhen. Der Bürger trägt heute auch verwaschene Jeans und Sneakers. Diese Definition, mit der ich auf die Reise ging, war nicht sehr freundlich gegenüber dem Bürger. Aber ich durfte es mir erlauben,
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