Vom Aussteigen und Ankommen
zurückließ, leuchtete gelbgrün in der Nacht. Da hätte Jörg Remus fast an Gott geglaubt.
Sie erreichten Elba nie, ein Herbststurm. Sie retteten sich gerade noch in den Hafen von Livorno.
Jörg Remus hatte trotzdem auf der »Seebär« das erste Mal ein Gefühl größerer Freiheit, die er sich dadurch erklärte, dass er sein ganzes Leben auf acht Quadratmeter zusammengefasst, alle Verträge gekündigt hatte und er nicht zur Arbeit gehen musste. Aber auf die Seefahrerei war den beiden die Lust vergangen. Sie verkauften die »Seebär«.
Zurück in Deutschland, setzte Jörg Remus seinen Kraut-und-Rüben-Lebenslauf fort. Er fuhr mit einem Crêpesmobil auf Volksfeste und verdiente damit viel Geld. Nach einem Jahr aber konnte er keine Crêpes mehr sehen – beziehungsweise keine Eier. Und seine Freundin konnte ihn danach nicht mehr sehen, weil er Stellen auf Messen in ganz Europa annahm. Und irgendwann konnte er sie nicht mehr sehen, denn sie hatte Schluss gemacht.
Jörg Remus flüchtete in eine Weltreise. In Tasmanien schlief er in einer Holzhütte. Wieder der kleine Raum, wieder das Glücksgefühl. Er erinnerte sich an die »Seebär« und dachte: Das reicht doch. Am nächsten Tag sah er in einem Fluss ein Schnabeltier. Es schwamm recht ungelenk, es erinnerte ihn an ein Hausboot. Das war es: ein Hausboot bauen. Es sollte den Namen des Schnabeltiers tragen: »Platypus«.
Im Bauch des Schnabeltiers
Jörg Remus baute sein Hausboot in wenigen Monaten. Inspiriert vom Schnabeltier, machte er sich an die Arbeit, als er zurück in Köln war. Nicht größer als die tasmanische Holzhütte sollte das neue Zuhause werden. Er reduzierte seine Arbeitszeit auf eine halbe Stelle, lieh sich von der Bank Geld und kaufte für einige tausend Euro Bretter, Schrauben, Kanister und begann im Mülheimer Hafen zu bauen. Er plante zwei Jahre, baute ein Jahr und zog 2005 in das Boot ein. Damals schwamm es noch gar nicht im Wasser, sondern es stand am Ufer. Erst als die Werft einen Kran gemietet hatte, konnte Remus sein Schnabeltier aufs Wasser lassen.
Ich schlief nicht im Boot, sondern in einem alten Schiffscontainer, den Jörg Remus zur Gästewohnung umgebaut hatte. Er stand auf Stelzen. Man hatte daraus einen guten Ausblick runter aufs Hausboot und den Hafen. Daneben standen Holzkähne, Kanus oder Sportboote, die darauf warteten, zum Sommer ins Wasser gelassen zu werden, auch die »Käpt’n Nick«. Ihr Besitzer hatte sie bei eBay gekauft, sie abholen wollen; doch auf dem Rhein merkte er, dass Wasser einlief. Er rettete sich zurück in den Hafen. Aus seinem Traum vom Meer wurde ein Gerichtsprozess.
Am Morgen, als ich zum Hausboot ging, wurde ein Schmetterling vom Wind über den Hafenweg geweht wie ein Strohballen über den Wüstensand. Dunkelrot waren seine Flügel, die ihm für den Frühling gewachsen waren. Doch die Flügel waren angeknabbert, der Schmetterling kämpfte mit dem Tod. Er schlug sie auf und ab, stieg immer nur wenige Zentimeter auf, sank wieder zu Boden, versuchte es erneut, wurde wieder von der Schwerkraft besiegt und vom Wind ein Stück weitergerollt. Ich überlegte, ob ich ihn mit einem Fußtritt erlösen sollte. Aber vielleicht wuchsen die Flügel ja wieder nach, so wie die Fingerkuppen von Jörg Remus. Schmetterling, träum weiter vom Fliegen.
Seit zehn Jahren lebte Jörg Remus von Jahr zu Jahr bescheidener. Damals hatte er beim Fernsehsender Premiere in München noch so viel Geld verdient, dass er einen eigenen Katamaran, einen VW-Bus und ein Aktiendepot besaß. Jetzt war sein Leben näher an den Elementen. Das Wasser trug ihn, der Wind schüttelte das Boot, Kaminfeuer heizte im Winter. Trinkwasser holte er sich in Kanistern aus der Halle, die fünf Minuten entfernt war; dort duschte er auch. Ein Chemieklo war an Bord. Frühere Pläne über eine Autarkie mit Solarzellen und einer Wasseraufbereitungsanlage für Rheinwasser verfolgte er mangels Geld nicht weiter.
Was mir vor Beginn meiner Reise selbstverständlich schien, kam mir jetzt schon unnatürlich vor. Glänzende Badfliesen, Supermarktessen. Täglich zu duschen erschien mir als abzulehnender Hygienismus. Ich hatte mir angewöhnt, T-Shirts vier Tage zu tragen, Socken eine Woche. Niemand beschwerte sich darüber.
Jörg sagte denselben Satz wie der Waldmensch: Nicht als Ausstieg, sondern als Einstieg sehe er seinen Ausstieg, als Einstieg in ein selbstbestimmtes Dasein. Sein altes Leben war ganz in Arbeit und Freizeit unterteilt, dazwischen gab es nichts. Er
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