Vom Aussteigen und Ankommen
schien den Kampf gegen den Rost zu gewinnen. Junge Birken und Gras wuchsen über Schienen, auf denen manchmal noch Boote ins Wasser gelassen wurden. Köln und Hafen waren eine Symbiose eingegangen. Der Hafen brauchte die Stadt mit ihrem Chic, Hochglanz und Konsum, denn ohne all das hätte er sich nicht von alldem absetzen können, dann wäre er nur ein schäbiger Flusshafen gewesen. Und Köln brauchte Orte wie diesen, um zu zeigen, dass es ein Herz hatte und ein Gespür für das Meer.
Der Rhein war im Hafenbecken handzahm. Er versiegte auf schmutzigem Sand, hier war der Deutschlandfluss ein Ententümpel. Wolken und Schiffe spiegelten sich im Wasser, laut wie auf einer Autobahn rauschte der Stadtverkehr über die Zoobrücke, wenige hundert Meter am Hafen vorbei, aber bald filterte das Gehirn den Lärm heraus, und man nahm nur noch die Vogelstimmen wahr. Eine Seilbahn transportierte Gondeln über den Fluss zum Zoo, auf deren Trägermasten wehten Coca-Cola-Fahnen.
Ein ganz normaler Kölner
Jörg Remus kam von der Arbeit zurück. Er war kein Alternativer und kein Mönch, wie exotisch. Ein ganz normaler Kölner: Single, vierzig. Er war charmant und hatte eine warme Stimme, aber er hatte auch etwas Trauriges in den Augen. Er sagte, im Moment suchten ja alle nach dem Sinn. Er hatte einen festen Händedruck, aber etwas fehlte. An der Spitze seines Zeigefingers klebte ein großes Pflaster. Er führte mich auf einer Treppe zum Boot hinab, es war schon dunkel. Vor dem Eingang stand Werkzeug. Jörg Remus hatte seine Arbeit an der Außenwand unterbrechen müssen, als er sich vor einigen Tagen zum zweiten Mal innerhalb weniger Wochen eine Fingerkuppe absägte. Fingerkuppen wüchsen nach, sagte er, der Körper merke sich die Form bis zu einer Länge von fünf Millimetern.
Das Hausboot wippte leicht auf Wellen, die so sanft waren, dass man sie nicht sehen konnte. Ein Hausboot zwischen einer Werft und einem Technoclub war zwar so ungünstig gelegen wie eine Einzimmerwohnung direkt an einer Autobahn, aber man dachte beim Anblick des Bootes: »Oh, wie idyllisch, ein Hausboot!« Die Liebe des Menschen zum Wasser war groß, auch wenn das Wasser trüb war und darauf Algen trieben.
Jörg Remus hatte seit einigen Jahren ein zunehmendes Bedürfnis nach Einfachheit. Er wollte reduzieren: weniger Geräte, weniger Geld, weniger Arbeit. »Ich kann gut mit tausend Euro im Monat leben, und ich kann gut mit viertausend Euro leben«, sagte er, »man tut sich aber keinen Gefallen damit, Kram anzuhäufen.« Sein Hausboot, das »Platypus« hieß, sah aus wie ein schwimmender Schuhkarton aus Holz. Jörg Remus hatte es selbst gezimmert und auf zwei Kufen gesetzt, die Schwimmkörper. Das Boot hatte keinen Motor. Es konnte nicht selbständig wegschwimmen, gaukelte also die Freiheit, die es versprach, nur vor. Man kam damit nicht mal bis nach Leverkusen.
Wir gingen hinein. Im Boot war die Einrichtung holzig und freundlich, eine alte Truhe war der Sofatisch, es gab eine Kochecke, eine rote Couch, einen Kamin zum Heizen mit Briketts. Eine Glastür führte nach draußen auf die Terrasse, auf der ein Grill stand und zwei Liegematten, die ein Freund aus Thailand mitgebracht hatte. Wir legten uns darauf und öffneten eine Flasche Weißwein. Mit wurde etwas übel, der Zahnschmerz kam wieder. Aus dem Technoclub waren die ersten Bässe zu hören, die Fische tanzten.
Vor zwölf Jahren, als Jörg Remus achtundzwanzig Jahre alt war, hatte er bereits viele Jobs gehabt. Er war Messe- und Büh nenbauer bei »RTL Samstag Nacht« gewesen, Programmabwick ler bei einem Kinderfernsehsender, er hatte eine Ausbildung zum Radio- und Fernsehtechniker gemacht, einen Lampenladen in Mönchengladbach eröffnet, betrieben und geschlossen. Sein BWL-Studium hatte er schleifen lassen. Eigentlich hatte er Architekt werden wollen, aber sich nicht getraut, Architektur zu studieren, da ihm vor der Mathematik graute. Betriebswirt wollte er nie werden und wurde es nie. Mit achtundzwanzig nahm er eine erste Auszeit. Er kaufte mit seiner Freundin das Segelboot »Seebär«, und sie fuhren damit über den Rhein durch zweihundert Schleusen und weiter bis aufs Mittelmeer. In der letzten Nacht wollten sie von Genua nach Elba übersetzen. Im Dunkeln fuhren sie aufs offene Meer hinaus. Leuchtende Algen schwammen im Wasser, eine blühende Art, die das Sonnenlicht speichert und im Dunkeln fluoresziert. Das Schiff fuhr im Mondlicht über die See, der Himmel war schwarz, und die Spur, die das Boot
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