Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Vom Aussteigen und Ankommen

Titel: Vom Aussteigen und Ankommen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Grossarth
Vom Netzwerk:
normalen Welt wieder seinen Platz zu finden, wobei nach dieser Definition auch Familien oder Klöster Sekten sein konnten.
    Andererseits schien die Meinung der Bild , Damanhur sei eine »irre Psycho-Sekte«, in keinem Widerspruch dazu zu stehen, dass die Menschen sich hier »Falke«, »Affe«, »Kanarienvogel« oder »Ziege« nannten.
    Im Tal von Piemont beruhigten sich die Berge. Straßenschilder wussten den Weg von der Autobahnabfahrt nach Damanhur. Das Empfangsgebäude stand hinter einer hohen Hecke, über der bunte Fähnchen aller Länder an Fahnenmasten wehten. Hoch über den Länderflaggen hing die gelbe Fahne mit dem Symbol von Damanhur, das einem Hexagramm ähnelte.
    Makakenäffchen Tamariske erwartete mich, Macaco Tamerice. Sie war eine Deutsche, einundfünfzig, sie trug ihr blondes Haar lang, schwarze Jacke, Stiefel fraßen die blauen Jeans. Ihre Stimme klang kantig. Für die nächsten Tage war sie meine Fremdenführerin, sie hatte sich dafür gern Zeit genommen, aber die Öffentlichkeitsarbeit war auch ihre Zuständigkeit in der Gemeinschaft. »Du musst erst mal zum Arzt, er checkt dich kurz, das ist wichtig. In Gemeinschaften übertragen sich Krankheiten schneller«, sagte sie.
    Die Arztpraxis war gleich gegenüber dem Empfangsgebäude. Ich war ja nicht krankenversichert, aber kam sofort dran. Der grauhaarige Arzt, der früher ein Chefarzt in Turin gewesen sein sollte, jetzt war er in der Hauptsache Damanhurianer, maß meinen Blutdruck und sagte: »Very good blood.« Er fragte noch, ob ich an Hepatitis oder HIV erkrankt sei, ich verneinte, er trug in seinen Behandlungsbogen ein: »110 : 80, Epatite non, HIV non.« Ich war gesund, das war ein guter Arzt, auch wenn er meine Zahnschmerzen nicht erkannt hatte.
    Wir meldeten mich noch zum Tempelbesuch an, zur Reise in das Herz Damanhurs. Er lag unter der Erde im Berg, achtzig Meter tief, verwinkelt wie ein Labyrinth, und war sechzehn Jahre unentdeckt gewesen. Zwei Tage später würde ich ihn besuchen. Für einen Eintrittspreis von sechsundsechzig Euro, wie mir Macaco sagte. Jetzt fuhren wir hinauf zum Haus von Macacos Familie, meiner Gastfamilie. Hier lebten auch drei deutsche Frauen. Das Haus war mehr als zehn Kilometer entfernt vom Check-in, dazwischen lagen ein Stausee, ein Dorf, ein Berg.
    Vor fünfunddreißig Jahren soll hier im Piemont, einer der besten Trüffelgegenden Europas, ein Mann namens Falco, der sich nicht zufällig wie der falkenköpfige Ägyptergott Horus nannte und damals achtundzwanzig war, mit Freunden am Lagerfeuer gesessen haben. In der konservativen Gegend waren die jungen Leute als Horus-Sekte verrufen. Sie saßen am Feuer, blickten auf Berge und Täler und waren von größeren Ideen inspiriert. Dem Gedanken, dass Menschen die Materie mit der Kraft des Geistes verändern konnten. Am Lagerfeuer beschlossen sie dann angeblich, einen Tempel in den Berg zu schlagen, in dem der Mensch seinen geistigen Kern kontaktieren könne. Ähnlich wie schon bei der Geburt des Christuskinds quittierte der Himmel die Historizität des Moments mit einem astronomischen Schauspiel: Eine gewaltige Sternschnuppe mit einem Schweif fiel vom Himmel.
    In diesem Berg sollte der Mensch fortan innerlich wachsen, vom Fleischlichen ins Magische, und der Kosmos hatte dazu sein Okay gegeben.
    Jeder Mensch, glaubten die Damanhurianer, habe einen göttlichen Funken in sich, zwischen dem Göttlichen und Menschlichen gebe es viele Lebensformen und Intelligenzen wie Engel, Kobolde, Elfen. Sie wollten den göttlichen Keim nicht vertrocknen lassen, ihr ganzes Leben nach Werten leben. Im Tempel sollten die Funken tanzen. In drei Tagen würde ich den Tempel sehen dürfen.
    Mittlerweile lebten hier etwa sechshundert Menschen, das Heiligtum war fertig, und es gab noch einen offenen Tempel und andere magische Stätten. Die Familien lebten in großen Häusern zusammen, die kilometerweit verstreut um das Zentrum lagen. Dazwischen waren Dörfer und Höfe, deren Bewohner nichts mit Damanhur zu tun hatten. Lang opponierten die Alteingesessenen gegen das neue Volk, doch die Konflikte waren nun beigelegt, wie Macaco erzählte. Mittlerweile saßen schon Damanhurianer als Lokalpolitiker in den Gemeinderäten und hatten sich als vernünftige Nachbarn gezeigt, mit denen man leben konnte.
    Wer hierherzog und der Gemeinschaft ganz beitrat, gab bis vor einigen Jahren auch sein Vermögen an die Gemeinschaft. Mittlerweile war es eine freiwillige Abgabe, aber einen Teil des Besitzes und Einkommens

Weitere Kostenlose Bücher