Vom Aussteigen und Ankommen
hatte beides gesucht: weniger Arbeit, aber vor allem sinnvollere. Niemals aber wäre er dafür aus der Stadt weggezogen, um das zu finden. Stroh und Ziegen waren ihm fremd, und er wollte in Deutschland bleiben, wegen der Sprache und, im Gegensatz zum Waldmenschen Wolfgang Hamacher, gerade wegen der Bürokratie: »Weil alles so gut organisiert ist.« Jörg Remus wollte einfach leben, um selbstbestimmt zu leben, Wolfgang Hamacher lebte einfach, weil er die Suche nach Selbstbestimmung, auf die sich der moderne Mensch begeben hatte, als Lüge entlarvt hatte.
Wir lagen am letzten Mittag im kühlen Frühlingswind draußen auf den Thailandliegen, Angler versuchten zehn Meter entfernt vom Ufer aus, Rapfen zu fangen, der Bootsrumpf trieb leicht hin und her. Jörg Remus saß da und blickte zufrieden auf das, was er in den vergangenen beiden Jahren in seiner neuen Freizeit geschaffen hatte: Er hatte auch eine Werfthalle angemietet und sie mit eigenen Händen zu Büros und Lagerräumen ausgebaut, um sie zu vermieten. Irgendwann wollte er von den Mieteinnahmen leben und sich dann ein neues, noch kleineres Hausboot bauen. Dann könnte er vielleicht noch beruhigter am Hafen sitzen und auf den Rhein schauen, so wie der Fischer in Heinrich Bölls Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral.
Jörg Remus befürwortete die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens in Deutschland, so hoch, dass es für Miete und Nahrung reichte. Für die Mittelschicht wäre das ein Energieschub, glaubte er. Weil Maschinen immer besser arbeiteten, müssten die Menschen nicht mehr so viel tun, aber man müsste sie auch teilhaben lassen, fand Jörg Remus, das Scheidungskind, das sich darauf spezialisiert hatte, kleine heile Mikrowelten zu errichten. Vielleicht pflanzte uns der liebend hassende Gott, seitdem wir das Paradies verlassen mussten, unsere Verletzungen ja wie ein Gärtner einen Blumensamen ein, damit sie uns zur Arbeit antrieben, die um unsere inneren Ris se kreiste und am Ende so etwas Schönes hervorbrachte wie ein schwankendes Hausboot im Rheinhafen. Dann wäre ein Grundeinkommen eine gute Idee. Weil Arbeit fürs Geld allein keinen Bezug mehr zu unseren Wunden hätte.
Als ich ging, schenkte mir Jörg Remus ein Buch, das ihm seine Mutter geschenkt hatte und das er schon länger loswerden wollte: Die hohe Schule der Einsamkeit. Von der Kunst des Alleinseins .
Eine esoterische Gemeinschaft im Piemont
Durch das grüne Käsetal Gruyère fuhr ich zum Genfer See, wo in einer Gaststätte der Mittagstisch 22,50 Euro kostete, Roastbeef. Man konnte ja gut ohne Fleisch leben, doch das gab einem deutschen Twingo-Fahrer trotzdem eine plötzliche Ahnung davon, wie unbemerkt einfach das eigene Leben vergleichsweise war. Ich ließ auf dem Alpenpass Saint-Bernard ein schmelzendes Skiparadies links liegen, ehe sich die Straße im Aostatal nach Italien hinabwand, wo die Bauernhäuser nicht mehr aus Zuckerguss, sondern aus Naturstein waren und nur die Dorfkirchen pastellgelb gestrichen.
Mein Ziel war die große, seltsame Gemeinschaft namens Federazione di Damanhur. Sie nannte sich zwar auch »Ecovillage«, hatte aber einen anderen Schwerpunkt als das Ökodorf Sieben Linden: die gemeinsame Spiritualität. Die Bewohner Damanhurs waren internationaler, das Dorf bestand aus Großfamilien, in denen jeweils etwa zwanzig Leute gemeinsam lebten. Damanhur gab es bereits seit mehr als fünfundzwanzig Jahren, und es hatte sich in dieser Zeit eine derart eigene Kultur gebildet, dass heute schon Ethnologen von Universitäten kamen, ein Jahr dablieben und Aspekte dieser neuen Mikronation erforschten.
Ich wusste von der Föderation Damanhur, dass deren Bürger ihre bürgerlichen Namen nicht mehr nutzten und stattdessen neue Vornamen von Tieren angenommen hatten und Nachnamen von Pflanzen. Statt Wolfgang Hamacher hießen sie dann zum Beispiel »Schaf Tanne«, aber auf Italienisch – »Pecora Abete«. Eine zweite Information hatte ich aus der Bild , in der stand, dass »unser Popstar Nena« hier gewesen sei und Daman hur sehr gut gefunden habe. Aber die Bild fand Damanhur nicht gut. Ihre Reporterin meinte, es handle sich um eine »irre Psycho-Sekte«. Und auch im Internet behaupteten einige Anonyme – von denen die Bürger Damanhurs wiederum sagten, dahinter stehe die denunziatorische katholische Kirche –, das Ökodorf sei eine Sekte, eine Struktur, die den Einzelnen von sich abhängig macht. Denn wer Damanhur nach Jahren verlasse, könne es schwer haben, in der
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