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Vom Aussteigen und Ankommen

Titel: Vom Aussteigen und Ankommen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Grossarth
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Haare. Drei Jungen spielten Fußball, zwei fuhren auf Dreirädern, eine Gruppe Jugendlicher stand vor dem Haus Nummer vierundzwanzig, ein Anblick wie aus der Zeit vor der Antibabypille. Ein komischer Hippie saß auf einer Bank, er sah aus wie ein Obdachloser. Die Vierundzwanzig war das zentrale Gebäude. Ich ging hinein und folgte dem Essensgeruch, eine Frau stand in der Großküche und zeigte mir den Weg zum Matratzenlager auf dem Dachboden. Auch oben roch es noch nach Essen. Die Hauseinrichtung war sehr einfach, die Ordnung und Sauberkeit entsprach dem Klischee einer Studenten-WG aus den achtziger Jahren.
    Jeder, der wollte, durfte hier im Matratzenlager übernachten, die Likatier nahmen dafür kein Geld. Drei Männer lagen auf ihren Betten. Zwei waren wach: Der eine hieß Jürgen, er war ein älterer Mann mit kurzem Vollbart, der andere Rainer, dunkelhaarig, um die vierzig. Rainers Augen standen schmal zusammen, seine Brillengläser auch. Er bewohnte die hintere Ecke des Dachbodens. Am Kopfende hatte er Kleider gestapelt und daneben seinen Wanderrucksack und eine Flasche Rotwein aufgestellt. Der dritte schlief, es war ein jüngerer Reisender mit Ziegenbart, vor seiner Matratze lagen ein Feuerzeug mit einem Bob-Marley-Aufkleber, Tabak, Blättchen.
    Rainer verließ den Raum. Jürgen erzählte mir, was er über ihn vom Hören wusste: Rainer lebe hier schon seit fast einem Jahr. Morgens verlasse er das Lager in der Regel, komme am Abend wieder, meditiere dann und schlafe früh. Niemand wisse genau, was er tagsüber mache. Jürgen glaubte, Rainer gehe hinaus in die Wälder.
    Der Hippie hinkt, der Lambrusco perlt
    Die Menschen, die in der Gasse auf und ab gingen, sahen eigenwillig aus. Die Männer trugen Bärte und langes Haar. Die Frauen waren schwanger oder hatten ihr Baby mit einem Tuch um den Bauch gewickelt, oder sie hatten kleine Kinder, die selbst laufen konnten, oder alles zusammen. Die meisten Likatier trugen schlabbrige Kleider, sie lasen offenbar keine Modemagazine. Der Stamm der Likatier schien mir – obwohl er diplomatische Beziehungen mit Damanhur unterhielt und dort auch einen Weinberg besaß – keine Gemeinschaft von Individualisten zu sein, sondern eine Gemeinschaft von Außenseitern. Die Likatier galten in der Stadt als eine randständige Gruppe. Manche hielten sie für eine Sekte von Schlägern, Sozialhilfebetrügern, Päderasten.
    Am ersten Abend wollte ich immer noch allein sein. Doch ich begegnete, als ich durch die Altstadt ging, zwei Likatiern, mit denen mein Zimmernachbar Jürgen unterwegs war. Er fragte: »Bock auf tiefe Gespräche?«
    Ich dachte: »Bitte nicht«, nickte und ging mit.
    Die Gruppe bestand zudem aus einem lockigen Programmierer, der eine Lederjacke trug, Jeans und halboffene Regenschuhe, und dem seltsamen Hippie, der tagsüber auf der Bank in der Spitalgasse gesessen hatte. Er hieß Deva, sein Gang war so steif, als seien alle seine Gelenke durch Holzprothesen ersetzt worden. Seine Erscheinung setzte sich zusammen aus einer bunten Jeansjacke mit Blumenmotiven, einer grünen Schlafanzughose sowie einem Flowerpower-Stirnband. Was seine Aufgabe in der Gemeinschaft war, wusste ich nicht. Ich dachte, er sei alkoholisiert. Im Mittelalter wäre er vielleicht ein Hofnarr gewesen, oder man hätte ihn in ein Narrenschiff gesetzt, das den Rhein hinabfuhr.
    Als wir in eine gut besuchte Bar eintraten, ernteten wir belustigte Blicke und gingen weiter, weil es dort zu teuer war. Stattdessen gingen wir in eine abgelegenere Pizzeria. Deva bestellte Kakao, der Programmierer Cappuccino, ich Kakao und Jürgen eine Karaffe Lambrusco. Der Blumenmann hatte kein Geld dabei. Jürgen, der gerade auch von Sozialhilfe lebte, zahlte ihm seinen Cappuccino. Der Blumenmann verlangte dann auch noch nach einem Tiramisu, aber das wollte ihm Jürgen nicht ausgeben.
    Auch Jürgen war nur Gast beim Stamm der Likatier. Er war etwa sechzig Jahre alt und sah aus wie ein südamerikanischer Ziegenhirt: braungebrannt, durchfurchtes Gesicht. Tatsächlich war er gerade aus Guatemala zurückgekommen, wo er zweiundzwanzig Jahre lang gelebt hatte und sich nun von seiner Frau scheiden ließ. Er verharrte hier aus Geldnot. Erst in einer Woche, wenn die Sozialhilfe für den nächsten Monat ankäme, würde er mit dem Zug weiterreisen, zu seiner Familie nach Norddeutschland und dann für den Sommer zu Freunden nach Schweden.
    Jürgen trank seinen leicht perlenden Lambrusco, Deva lachte debil und rührte im Milchschaum, die Wirtin,

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