Vom Aussteigen und Ankommen
später, nach zwei Monaten aus dem Koma auf. Seine brasilianische Freundin war da schon zurück in ihre Heimat geflogen. Er bedauerte noch heute, dass er sie nicht geheiratet habe, dann wäre sie vielleicht trotz des Unfalls bei ihm geblieben. Er lernte langsam wieder zu gehen, zu essen, zu sprechen. Sein Vater nahm ihn zu sich, doch als er zu alt wurde, um sich um Deva kümmern zu können, suchte er eine Gemeinschaft für ihn. Die Likatier nahmen ihn auf, versorgten ihn bis heute für einen Teil seines monatlichen Schmerzensgeldes. Dass die Likatier sich um Deva sorgten, sagte vielleicht mehr über sie aus als reißerische Zeitungsartikel über das Sexleben des Stammesgurus, die vor einigen Jahren erschienen waren, wie auch die Berichte, die den Stamm als Ausbeutungssystem der Arbeiter zugunsten der Familie Wankmiller beschrieben und als gewaltbereit und durchgeknallt.
Deva mochte die Alpen und die Leute im Stamm, aber er liebte den Ziegenstall auf Paros und seine verschollene Brasilianerin. In Gedanken war er immer noch oft mit seinem Motorrad in der Wüste unterwegs. Ich glaubte jetzt zu verstehen, warum er stets so aus der Tiefe lächelte. Er war dankbar, dass er leben durfte.
Der Name »Deva« war wohl nicht sein bürgerlicher, sondern ein Künstlername. »Deva« hieß im Indischen »Halbgott, Erleuchteter«, ein Zwischenwesen wie ein Engel. Deva war vielleicht kein Engel, aber er war seinem Engel begegnet.
Fast alle Likatier arbeiteten in stammeseigenen Unternehmen. Der Arbeitsalltag war auch hier anders als in der übrigen Welt. Morgens sangen die Mitarbeiter gemeinsam. Die Arbeitsanreize waren andere als üblich. Nicht für sich selbst ein hohes Einkommen zu bekommen motivierte die Mitarbeiter, sondern die gemeinsamen Ziele der Sippe: die Aussicht, ein neues Haus in Füssen zu erwerben oder eine Schule in Österreich, um die Kinder dort selbst unterrichten zu können. Der Stamm hatte bereits ein Gebäude in Österreich, die meisten Kinder zogen dorthin um, wenn sie schulreif waren; in dem Schulgebäude unterrichteten die Mütter ihre Kinder selbst, in Österreich ist »Homeschooling«, anders als in Deutschland, erlaubt. – Im Internet stellte sich die Gemeinschaft so dar:
Die Likatier wollen sich auf das Leben und aufeinander einlassen. Sie wollen ihren Kindern ein Zuhause geben, auf das sie sich verlassen können und wo sie sich frei entfalten können. Sie wollen ein Lebensumfeld schaffen, wo sich jeder bedingungslos geliebt und angenommen fühlen kann. Sie wollen der Vereinsamung der Menschen durch diese Gesellschaftsform ein Leben in Gemeinschaft entgegensetzen, was den Einzelnen wieder zum wertvollen Teil eines Ganzen macht. Sie wollen der Entzauberung dieser Welt mit der Magie des Lebens entgegentreten. Sie wollen schrittweise in das lebendige Paradies hineinwachsen.
Die »Medienkampagnen«, wie die Likatier sagten, die auch in der Chronik des Stammes festgehalten waren, wurden nicht fortgesetzt, seitdem der Stamm sich der Öffentlichkeit geöffnet hatte. Seitdem veranstalteten die Likatier auch ihre Kennenlernseminare. Am nächsten Morgen in der Früh würde eins beginnen – was für Leute würde es wohl anziehen?
Auf den Spuren der Muttergöttin
Die Seminartage begannen mit einem Kennenlern-Frühstück. Eine dicke Dame mit schriller Stimme begrüßte die dreizehn Teilnehmer. Das war eine Menschenmischung, für die es keine Schublade gab: ein glatzköpfiger, blasser Sachse, eine alleinerziehende Mutter aus München mit ihrem zweijährigen Töchterchen, die zwei jungen Hippies, die neben mir geschlafen hatten, beide in weiten Leinenkleidern, er mit Gitarre und sie mit ihrem kleinen dunkelhäutigen Jungen, eine Dame mit gepflegter Frisur und beigefarbener Steppjacke, Ralf aus Ostwestfalen, der aussah wie ein Ralf aus Ostwestfalen, und ein Herr mittleren Alters mit blondem Haar und rotem Fleecepullover.
Die dicke Dame erzählte von Land und Leuten wie die Reiseleiterin von Neckermann im Urlaubshotel: Die Likatier feierten neben dem Geburtstag auch ihren Zeugungstag. Die Kinder erhielten immer den Nachnamen der Mutter. Einige Menschen aus der Stadt deuteten das so, dass alle Kinder der Likatier unehelich seien, damit die Sippen die Höchstsätze der Sozialhilfe für Alleinerziehende einstreichen könnten. Die Likatier selbst beteuerten aber, grundsätzlich keine Sozialhilfe zu beantragen.
Likatien hatte eigene Namen für die Wochentage: Der Mittwoch hieß »Rauschtag«, Freitag war der
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