Vom Aussteigen und Ankommen
sie aus Kleinfamilien stammten, in der die Kommunikation eingerostet war, deswegen hatten sie sich für eine Kommune entschieden. Nicht weil sie die Familie ablehnten, sondern weil sie sie retten wollten. Ihre Tochter hatte gerade ein Kind bekommen, auch mit einem Mann aus dem Stamm. Sie waren junge Großeltern und vertraten die Ansicht, dass ihnen die Familie besser geglückt sei als ihren Eltern.
»Uns geht es immer darum, dass der Mensch ins Paradies zurückfindet«, sagte sie, »ins Paradies als abendländisches Bild dafür, dass er wieder sein Glück findet.«
Die Likatier glaubten auch, dass Dinge und Tiere und die Landschaft eine Seele hatten. Wenn sie einmal ein Haus gekauft hatten, verkauften sie es zu keinem Preis der Welt wieder. Denn sie waren eine Bindung zum Haus eingegangen. In den Bergen, die sie umgaben, sahen sie jahrtausendealten Geist leben. Das alles waren uralte Gedanken der Kelten, auch der Germanen, der Urvölker. Die Likatier würden Füssen und die Landschaft nicht verlassen, ebenso wenig wie ihre Häuser. Sie dachten so ähnlich wie manche afrikanische Ureinwohner. So wie derjenige Stamm etwa, über den neulich in der Zeitung stand, er habe von der Regierung, die es auf die Rohstoffvorräte in seinem Siedlungsgebiet abgesehen hatte, nicht einmal aus seiner Heimat vertrieben werden können, nachdem man ihm die Wasserquellen verschlossen hatte. Die Menschen starben lieber, als den Ort zu verlassen, an dem ihre Ahnen gelebt hatten, denn die Orte und Seelen waren untrennbar miteinander verbunden.
Das war ein fundamentaler Unterschied zu bürgerlichen Lebenskonzepten. Die Likatier waren das Gegenmodell zum Kosmopoliten. Sie trennten nicht zwischen der Seele und den Sachen, während der moderne Mensch, selbst wenn er gern mal Bücher über das Glück der tibetischen Mönche las, die Belange der Seele seinem Ziel unterordnete, Materielles zu vermehren. Dann entfremdeten sich Materie und Seele voneinander. Ersteres wurde mehr und mehr Schwerpunkt, und die Seele erschien den Leuten als ein immer merkwürdigeres Konzept, bis es völlig unverständlich wurde. Die Likatier nannten ihre Weltsicht »Matriarchat«.
Warum nennt der Bürger Andersdenkende so schnell »Weltfremde«, »Verrückte«, »Fanatiker« oder »Wahnsinnige«? Weil der Bürger Wohlstand und Macht priorisiert und die Randfiguren der bürgerlichen Welt höhere Ziele verfolgen, worauf der Bürger im Innersten eifersüchtig ist?
An Bergen mangelt es Füssen nicht, und es musste doch ein Glück sein, darin nicht nur Steine zu sehen, sondern auch Berggeister. Wir saßen in der Sonne, um uns herum standen Alpen und liefen Hühner umher. Wir setzten Wirsingsamen in Blumenkästen. Deva füllte die Erde ein, ich fügte dann die Samen hinein. Er zitterte stark und konnte diese Arbeit gerade so schaffen. Zwischendurch holte ihn eine Frau ab, sie schimpfte, er habe seinen Zahnarzttermin vergessen, fuhr ihn hin und brachte ihn nach einer Stunde zurück. Dann pflanzten wir weiter im Akkord.
Deva, der Hippie. Er trank entgegen meiner ersten Einschätzung kaum Alkohol, Nussecken waren seine Lieblingsdrogen. Sein Gesicht wirkte eingequetscht, wenn er lächelte, schob sein Mund einen Kranz von Furchen von den Mundwinkeln bis zu den Schläfen, die Furchen wellten sich wie die Wasserkringel in einem See, in den man einen Stein geworfen hat.
Ein gelbes Stirnband hielt Devas dunkelblondes Haar zusammen. Er trug wieder seine Jeansjacke mit blassen Rosenmotiven und hatte sich über sein weit offenes Hemd eine bunte Krawatte umgehängt. Unter seiner Dreiviertelhose schaute auf Wadenhöhe eine gestreifte lange Unterhose hervor.
Nussecken, erzählte er, habe er in München jeden Tag gegessen. Die Nussecken waren die täglichen Besucher in seinem Krankenhauszimmer. Da saß er im Rollstuhl und fuhr die Flure des Klinikums Bogenhausen auf und ab, 1989, im Jahr nach seinem Motorradunfall.
Deva war nach seinem Schulabbruch durch die Welt gereist, erst mit dem Fahrrad von Hessen nach Athen, dann mit dem Motorrad durch Afrika. Er erzählte noch viel von dieser Zeit und nur sehr selten davon, was in den zwanzig Jahren danach war. Ein halbes Jahr hatte er vor dem Unfall in einem Ziegenstall auf Paros gelebt, dann war er Easy Rider im Südsudan. In der Wittelsbacherstraße in München scherte wenige Wochen später ein Auto aus. Deva wich mit seinem Motorrad aus, es geriet ins Schleudern. Er prallte mit dem Kopf gegen einen Baum und wachte, so erzählte man es ihm
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