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Vom Aussteigen und Ankommen

Titel: Vom Aussteigen und Ankommen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Grossarth
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eine parfümierte italienische Mami, wirkte unglücklich, blieb aber freundlich.
    Der Likatier mit den Locken erzählte ausführlich, wie der Stamm organisiert war. Es gab mehrere Kasten von Mitgliedern. Deren Namen waren gewöhnungsbedürftig. »Lebemenschen« gehörten dem Stamm zwar an, wohnten in eigenen oder in Stammeswohnungen, doch hatten sie noch ein eigenes Einkommen. Sie arbeiteten auch in externen Firmen oder waren selbständig, die meisten aber hatten eine der schlechtbezahlten Stellen in den Betrieben, die dem Stamm der Likatier selbst gehörten. Die nächsthöhere Kaste waren »Spurmenschen«. Sie wurden so genannt, weil sie auf der Spur zum »Schwurmenschen« waren. Der Schwur, den sie dann leisteten, band sie ein Leben lang an den Stamm. Sie steuerten fortan ihr ganzes Einkommen der Gemeinschaftskasse bei und erhielten vom Stamm nur ein Taschengeld, im Fall des Informatikers weniger als hundert Euro. Die Schwurmenschen durften dafür aber auch mitentscheiden, was mit dem Gemeinschaftsvermögen gemacht wurde: ob ein neues Haus gekauft, ein neues Unternehmen gegründet oder ob ein Beamer zum Fußballgucken für den Party raum angeschafft wurde. Alle Lebenshaltungskosten übernahm der Stamm. Und über die Altenpflege machte sich niemand Sorgen: Es gab genug Kinder.
    Wenn ein Schwurmensch, von denen es weniger als fünfzig gab, besonders gut in der Schwurmenschengemeinde integriert war, stieg er noch einmal auf. Er wurde ein besonderer Schwurmensch: »Existenzialmensch«. Was für Begriffe! Ich war müde und wollte diesen Ort lieber heute als morgen verlassen. Ich schlief schlecht, denn im Matratzenlager waren neue Gäste für das übermorgen beginnende Kennenlernseminar angekommen, darunter ein neben mir liegendes Paar mit einem vier Jahre alten Kind, das sich die ganze Nacht drehte und brabbelte.
    Wolfgang Wankmiller gründete den Stamm im Jahr 1974 gemeinsam mit einigen Freunden als Kommune. Damals war Wankmiller siebzehn und schlank und schön. Auf aktuellen Fotografien erschien er fettleibig, so wie der späte Luther. Deswegen hing von ihm ein schwarzweißes Jugendporträt aus der Gründerzeit an mehreren Flurwänden. Seitdem hatte sich die Wankmiller-Familie als fruchtbar erwiesen, zudem waren immer neue Menschen hinzugezogen, heute besaß Likatien rund fünfzehn Häuser in und um Füssen, einen Bauernhof und etwa dreißig Wirtschaftsbetriebe: einen Esoterikversand, eine Heilpraktikerschule, eine Webdesignfirma, eine Arztpraxis, zwei Rechtsanwaltskanzleien.
    Die Likatier lebten also in einem freiwilligen Kommunismus. Sie hatten, wie Damanhur, wieder ihre eigenen Riten und Feste und Götter. Sie lebten aber nicht in dem Wohlstand, den sich die Damanhurianer gönnten. Dem Stamm in Füssen schien es auch weniger wichtig, Kontakt mit der Mitte der Gesellschaft zu halten. Sie hatten sich in ihrer Rolle als randständige Menschen offensichtlich eingefunden. Die Stammesmitglieder, die viele Häuser in der Altstadt bewohnten, missachteten ästhe tische Konventionen so konsequent, dass es sogar so wirkte, als würden sie sich ganz bewusst von der anderen Welt abheben.
    Ich wollte einen Tag auf dem Hof mitarbeiten, bevor am Abend die restlichen Teilnehmer des Kennenlernseminars ankommen würden. Eine Frau im Wollpullover mit langem grauem Haar holte mich in der Floßergasse ab, und erstaunlicherweise stieg auch der steife Hippie Deva mit in ihr Auto ein. Wir hielten vor einer Bäckerei, Deva wünschte sich zwei Nussecken, er sagte »Nussecken« leicht lispelnd.
    Wir fuhren zehn Minuten aus der Stadt hinaus, auf den Bauernhof, der vor einer pittoresken Alpentapete allein auf weiter Wiese stand. Die Frau und ihr Lebensgefährte, der auch Wollpullover und langes Haar trug, gehörten dem Stamm bereits seit den achtziger Jahren an.
    Wir saßen in Jacken draußen im Windschutz der Hofwand, die Sonne wärmte uns ein bisschen. Die beiden erklärten, warum sie im Stamm lebten. »Es geht uns darum, das Leben bewusster wahrzunehmen«, sagte er. »Heute wird zu viel über den Kopf gemacht. Wir wollen wieder zum Ursprung zurückkommen.«
    »Ich empfinde es nicht als natürlich, wenn jemand ins Altersheim kommt, sondern als eine Zivilisationskrankheit«, sagte sie. »Wenn wir existenzieller lebten und es nicht alles im Supermarkt gäbe, wäre die Kommunikation viel offener.«
    Das also bedeutete Existenzialmensch, es war ein besonders einfacher Mensch, kein besonders erleuchteter oder hochstehender.
    Beide erzählten, dass

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