Vom Aussteigen und Ankommen
Southpole-Jeans, schmutzige Skaterschuhe und einen Kapuzenpullover.
Neben ihm saß eine Stammesälteste in türkisblauer Blumenbluse. Ihre Zähne waren gräulich und standen schief, ihr Blick war freundlich. »Wir sind der erste Stamm, der sich hier wieder etabliert hat«, sagte sie. Sie sprach alemannischen Akzent: »Die Kelten, die haben ja das halbe Jahr Feschte gefeiert.« Allein das Fest, mit dem die Götter um reiche Ernte gebeten worden seien, habe Tage gedauert. Die Frau sagte, vielleicht sollte man das auch heute wieder einführen: feiern und die Götter um reiche Ernte bitten, anstatt die Felder mit Kunstdünger zu besprühen. »Aber wir hängen heute alle noch zu fescht in diesem Leischtungsdruck.«
Die Beitrittsinteressenten schauten interessiert, einige schrieben mit. Der Sohn des Hippiepärchens lief krakeelend durch die Stuhlreihen.
Die Likatier lebten in Sippen zusammen. Die Sippen gruppierten sich um die Mutter. Meist lebten mit ihr alle ihre Kinder, ihre Eltern und ihr aktueller Lebensgefährte.
Der Rat der Schwurmenschen hatte bereits vor vielen Jahren beschlossen, dass der Stamm mit Ausnahme des Kindergeldes keine staatlichen Transferleistungen annehme. Für die rund hundert Lebemenschen, die lose mit dem Stamm alliiert waren, war diese Regel allerdings nicht verbindlich. Daher hatte die Geschichte, die sich die Leute in Füssen erzählten, vielleicht doch einen wahren Kern, nämlich dass das Geschäftsmodell des »Wankmiller-Clans« auch auf Sozialhilfezahlungen basiere. Jemand fragte die Seminarleiter nach Haftpflichtversicherungen. »Des isch ja das Letschte«, antwortete die Frau. Und zusätzliche Rentenversicherungen? »Kein Thema, wir bauen uns da unsere eigenen Ressourcen auf.«
Der Mann aus Sachsen nickte zustimmend. Einige Resthärchen auf seiner Glatze widersetzten sich dem Gesetz der Schwerkraft und standen voller Spannung nach oben ab. Der introvertierte Beitrittsinteressent im roten Fleece, der Wanderschuhe anhatte und seinen Kinnbart fein gestutzt, fragte mit einfühlsamer Stimme, wie der Stamm es mit der freien Liebe handhabe. »Desch ist ganz individuell«, sagte die Muttergöttin. Manche Paare blieben in lebenslanger Treue beieinander, manche Männer hatten zwei Frauen gleichzeitig, manche Frauen sieben Kinder von drei Männern.
Die Interessenten für einen Stammesbeitritt fragten höflich und einfühlsam: Die soziale Ächtung des Stammes durch die Füssener Bürger müsse doch schlimm sein? Jener Füssener, die sich um das saubere Stadtbild sorgten? All die Medienkampagnen? Immerhin überlegten sich diese dreizehn Leute mehr oder weniger ernsthaft, einer auch für sie ganz neuen Kultur beizutreten, doch sie stellten kaum kritische Fragen und nahmen alles so hin, wie es erzählt wurde. Es schien so, als wollten sie unbedingt, dass alles hier besser ist.
Abends spielte ich mit den jugendlichen Likatiern Fußball. Auf einem Bolzplatz mit Alpenblick spielten wir acht gegen neun. Es war für sie immer problemlos möglich, zwei Mannschaften aus dem Stamm zu rekrutieren. Später guckte ich mit den Fußballern Bayern München gegen Olympique Lyon. In dem Zimmer eines jungen Likatiers standen ein Beamer und eine Leinwand, in drei Reihen saßen sie vor der Leinwand, auf Bett, Stühlen und dem Boden, eng wie Fans in der Kurve. Sie tranken Schlosspils aus Plastikflaschen und jubelten bei jeder Flanke der Bayern. Ich konnte mich nicht auf das Spiel konzentrieren, denn die Fans waren interessanter. Ich sinnierte darüber, wer wessen Bruder war und wer wessen Cousin, viele sahen sich ähnlich. Hausarbeit und Großfamilie, viel mehr Kinder als Alte – was in Tausenden Jahren Menschheitsgeschichte normal und seit fünfzig Jahren nicht mehr war, galt uns plötzlich als sektenhaft und gruselig.
Von den jungen Erwachsenen entschieden sich viele dafür, im Stamm zu verbleiben. Die Likatier brachten ihren Kindern von früh an bei, dass es nicht gut sei, ein Leben als Rädchen im riesigen Getriebe der modernen Wirtschaft zu führen. Das nehme zu viele Freiheiten. Die Entscheidung etwa, wann ein Paar Kinder bekommt und wie viele, war im Stamm ganz frei, in der freien Welt aber von vielen Faktoren abhängig: der beruflichen Situation, der des Partners, der Wohnsituation. Oft begrenzte die Wohnungsgröße die Kinderzahl auf eines oder zwei. Die Ausbildung der Kinder und deren Karrieren waren hier nachrangige Ziele. Die meisten jungen Erwachsenen blieben im Stamm. Idealerweise sollten sie einfache
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