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Vom Aussteigen und Ankommen

Titel: Vom Aussteigen und Ankommen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Grossarth
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Berufe erlernen. Die Likatier glaubten nicht an die Notwendigkeit einer standardisierten oder gar akademischen Ausbildung. Im Verzicht auf Diplome sahen sie sogar Vorteile: Wenn eine Heilerin Medizin studiert hätte, könnte das mitunter verhindern, dass sie den Patienten ganzheitlich wahrnehme. Manche studierten aber trotzdem oder machten ganz gewöhnlich eine Ausbildung in externen Betrieben. Ihr Begriff von Individualität unterschied ihr Denken elementar von dem der Moderne. Den Individualismus lehnten sie ab.
    Am nächsten Nachmittag saß ich mit dem Unternehmensberater Ralf und dem introvertierten Mann im roten Fleece in einem Café. Beide waren etwa fünfzig Jahre alt und recht angetan von den Likatiern, fanden sie und die Wohnräume aber zu schmuddelig. Ralf sagte zwar, so wie die Likatier könne er nicht wohnen, setzte dann jedoch fort: »Letztlich finde ich aber, das ist wohl die Zukunft.« Im Moment kaufe er sich gegen die innere Leere sechsmal im Jahr neue Klamotten. »Krankhafter Konsum weit über dem Vernünftigen«: So könne die Gesellschaft nicht auf Dauer funktionieren.
    »Dieses Leben, fünfzig Stunden Arbeit in der Woche, das geht so nicht weiter«, sagte der Mann im roten Fleece.
    Am Abend war eine Männerrunde. Dazu trafen sich die Likatier regelmäßig, es gab auch Jungs- und Mädelsrunden sowie Treffen vieler anderer Gruppen. Introvertierte trafen sich in der Gruppe Secret, Temperamentvolle waren in der Gruppe Bombay assoziiert.
    Wir saßen wieder im Dachgeschoss der Heilpraktikerschule. Die Abendsonne schien herein, sie erleuchtete die Mähne des Gesprächsleiters Mark von hinten golden. »Männer, ich schlage als Thema für unsere Runde vor: ›Die Rolle des Mannes im Matriarchat‹. Oder hat jemand ein besseres Thema?« Nein, das hatte niemand.
    Wir saßen ideenlos auf unseren Holzstühlen, einige Likatier, Ralf, der blasse Vollmondmann, der Introvertierte, der junge Vater, barfuß und in grüner Leinenflatterhose. Niemand stellte sich mit den üblichen Daten seines Lebenslaufs vor, Beruf, Hobbys, Kinderanzahl, sondern mit einigen Sätzen, die den Kern der Person und Lebenssituation beschrieben. Ein Stammesmitglied sagte: »Kurz zu mir: Vater war im Krieg Bomberpilot bei der Luftwaffe, Mutter servile Hausfrau, sicher versteht ihr, warum ich dem Stamm beigetreten bin.«
    Das Matriarchat, sagte der Moderator, bedeute nicht, dass die Frauen alles bestimmten, sondern dass man das weibliche Prinzip als höchste Kraft ansehe, als »göttlich«, und nicht das männliche Prinzip.
    Die Leute erzählten, was sie unter Mann, Frau, männlichem und weiblichem Prinzip verstanden. Quintessenz: Die Rolle des Mannes im Matriarchat war es, zu arbeiten, aber nicht zum Selbstzweck, sondern um eine Familie zu versorgen. Matriarchat bedeute nicht, sagte der Moderator, dass das Hausmütterchen, sondern dass das weibliche Prinzip das Größte sei. Mit diesem Prinzip war gemeint, dass der Mensch alles empfange und sich dessen auch bewusst sei. Der Bauer mache ja keinen Weizen, sondern empfange ihn. Menschen allein könnten gar nichts produzieren, sie empfingen alles, so wie ein Säugling von seiner Mutter. Der Mensch sei schon nicht unabhängig geboren, und er werde nie unabhängig, er empfange bis zum Tod und vergesse es nur irgendwann, nur weil er laufen lerne und sprechen und programmieren.
    Mir fiel dazu ein Vers Goethes ein, ich dachte, Goethe macht sich immer gut, meldete mich, kam dran und sagte:
    Alles Vergängliche
Ist nur ein Gleichnis;
Das Unzugängliche,
Hier wird’s Ereignis;
Das Unbeschreibliche,
Hier wird’s getan;
Das Ewig-Weibliche
Zieht uns hinan.
    Die Verse zu Fausts Tod, als der alte Hurenbock doch noch erlöst wurde. Am Ende erschien das Größere, was nach dem Tod kam, bei Goethe als das »Ewig-Weibliche«.
    »Ja, Goethe mögen wir sehr«, sagte der Moderator mit einer Stimme wie schmelzender Camembert und mit verklärtem Blick. Ich dachte an Rainer, den Waldmenschen, der in der hinteren Ecke des Matratzenlagers lebte. Wenn das Gerücht stimmte, dass er tagsüber in den Wäldern lebte, war Rainer vermutlich ein Mensch, der nur noch empfing. Er hätte das Matriarchat gelebt. Er lebte auch davon, dass die Likatier ihn durchfütterten, aber mit solchen Leuten mussten die Likatier leben, wenn sie schon für das Matriarchat waren.
    Zu späterer Stunde saßen wir alle im Partykeller. Auch der Schwurmensch David war ein Anhänger des Matriarchats. Politisch sei er ein Linker, sagte er, sei aber

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