Vom Aussteigen und Ankommen
»Liebestag«, Samstag der »Erostag«, Sonntage waren »Traumtage«. Sex spielte offen sichtlich eine größere Rolle als in der bürgerlichen Welt, aber eine geringere als in der Bild . Die Likatier unterhielten überdies eine Art interspezifischer Freundschaft mit der Gattung der Wale. Die Meeressäuger waren wohl nicht gefragt worden, ob sie auch Freunde der Likatier sein wollten, aber man ging davon aus.
Dann stellten sich die Beitrittsinteressenten vor und sagten, was sie hier wollten. Ralf war Unternehmensberater. Sein Beruf war es, insolvente Hotels zu sanieren. Das gehe so, erzählte er: Er schmeiße immer erst mal den Chef raus, der es verbockt habe, kremple den Laden dann einige Monate lang ordentlich um, und dann laufe es auch wieder. Die dicke Dame guckte verständnisvoll, als erzähle ein Patient von seiner Psychose. Ralf war unglücklich mit seinem Job und machte kein Geheimnis daraus. Er lebte, wenn er arbeitete, monatelang in den Hotels, dafür hatte er dann Monate Freizeit und das Geld für aufwendige Reisen, trotzdem war er unglücklich: Er segelte nach Amerika, rennradelte rund ums Mittelmeer, skatete im Sommer durch Ostwestfalen, bis der Sommer vorbei war. Er sagte, er interessiere sich schon lange für den Stamm der Likatier, könne aber nicht genau sagen, wonach er suche.
Der introvertierte Fleeceträger hatte ein Burn-out erlitten, daraufhin seinen Arbeitsvertrag als Medizingerätevertreter gekündigt und war nun seit Monaten auf der Suche. Die alleinerziehende Mutter hielt Ausschau nach Wegen aus der verzehrenden Alleinverantwortlichkeit für alles, für die Tochter und für das Geldverdienen. Die beiden Hippies wollten in Österreich eine alternative Gemeinschaft gründen und sich hier inspirieren lassen. Der Sachse wollte nicht länger als Therapeut im Kinderheim arbeiten, denn, so sagte er, man könne gegen diese kranke Gesellschaft nicht mehr anerziehen. Er träumte daher von biologischem Landbau und von der Autarkie, aber keiner Autarkie nur für sich, sondern für eine kleine, gesunde Gesellschaft ohne Kinderheim.
Die Dame in der Steppjacke war Single und Altenpflegerin, sie wollte ihr Leben ändern. Auch eine junge Sozialpädagogin, füllige, rote Rastazöpfe, Piratenkopftuch, suchte nach Veränderung. Ferner stellte sich ein dreiunddreißig Jahre alter Ingenieur aus dem Schwäbischen vor, ein akkurater Typ mit stromlinienförmiger Brille, der seine Frau vor lauter Arbeit verloren hatte und vor den Trümmern seiner jungen Karriere stand.
Mit derart bürgerlichem Interesse hatte ich nicht gerechnet. Wieso waren diese Leute hier beim Stamm der Likatier?
Wir bekamen eine Stadtführung: Dieses Haus gehörte dem Stamm. Und dieses, ja, und auch dieses. Hier war die Heilpraktikerschule Likamundi, und da saß unsere stammeseigene Rechtsanwältin. In ihrem Esoterikladen in der Altstadt verkauften sie zum Beispiel diese Buchtitel: Unser keltisches Erbe, Im Liebeshain der Freyja, Die geheimnisvolle Beziehung zwischen Mensch und Tier, Orgasmus total, Die Alchemie des Horus & die Sexualmagie der Isis. Und ein Video über Prostatamassagen.
Wir gingen in die Heilpraktikerschule Likamundi. Dort roch es nach Holz und Güte. Wir nahmen in einem Raum im Dachgeschoss Platz, eine Fotoschau über den Stamm begann mit Synthesizermusik und der Überschrift »Dem Leben auf der Spur«. Das Filmchen versprach Neuzuzüglern abermals ein Leben in Gemeinschaft anstatt Vereinsamung, es wurden Bilder von gemeinsamen Lagerfeuern gezeigt, Bilder von den sogenannten Lech-Festspielen, auf denen nackte Likatier im Wasser umherrannten, und Bilder vom gemeinsamen Schneehausbauen im Winter. Dann war eine Zeichnung zu sehen, die eine dicke Dame mit Hängebrüsten darstellte. »Die Likatier glauben an eine weibliche Göttin«, sagte die Stimme aus dem Off. Das also war die Muttergöttin. Das nächste Foto zeigte ein Baby, welches an der Mutterbrust trank. Schließlich ertönte griechische Tanzmusik, einem Sirtaki ähnlich, und die Stimme aus dem Off erklärte, die Likatier seien ein feierfreudiges Völkchen.
Der Schwurmensch David, der zweite Leiter des Kennenlernseminars, ein Österreicher Ende zwanzig, sagte, die Diaschau habe man nach den Hetzkampagnen der Medien fertiggestellt. Sein mausähnliches Gesicht verschwand fast hinter langen Rum pelstilzchen-Haaren, einem Vollbart und buschigen Augenbrauen. Das Haar wallte über die Schultern, wie bei Albrecht Dürer auf seinem Selbstporträt. David trug eine breite
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