Vom Aussteigen und Ankommen
erfahren.
Jeden Morgen war ich dazu mit Claus im Meditationsraum verabredet, er wollte mir bei der Betrachtung helfen. Wir hockten vor einer Chagall-Bibel, neben der ein Kastaniengesteck stand. Daneben brannte eine Kerze. Unsere Mägen quakten in die Stille wie Frösche an einem Sommerabend.
Claus las Satz für Satz: Der Erzengel Gabriel erschien und so weiter, es war die Stelle, in der Maria jungfräulich in Empfängnis trat und vom Engel über den Plan, der dahinterstand, informiert wurde. Nachdem er eine Passage gelesen hatte, machte Claus eine minutenlange Pause. Das war viel Zeit, um drei Sätze mit allen Sinnen zu erfassen. Ich war nach zehn Sekunden fertig. Dann standen mir die Sinne nur noch nach Schlafen.
»Wahnsinn, wie die Maria das gleich annimmt«, sagte Hans, der Österreicher. »Die ist ja verlobt. Hat einen Mann, und dann kommt der Engel, und sie sagt gleich: ›Okay.‹ Respekt, Maria.«
Wir saßen am Vormittag im Unterrichtsraum: wir Novizen. Pater Maureder stand vorn am Lehrerplatz. Diese Theologiestunde, die im Jesuitenjargon »Instructio« hieß, fand an jedem Vormittag statt. Heute tauschten wir unsere Erfahrungen mit der morgendlichen Betrachtung aus. Mariä Empfängnis hatte Hans stärker berührt als mich. Die Novizen waren in den ignatianischen Betrachtungen geübt. In den großen Exerzitien, dem Herzstück des Noviziats, die gerade vorüber waren, waren sie vier Wochen ganz in Betrachtungen versenkt, hatten vier Wochen geschwiegen und betrachtet, betrachtet, betrachtet. Die Novizen wirkten euphorisch, wenn sie von ihren Erfahrungen erzählten. Das konnte ich nicht nachvollziehen, alles, was ich verstand, war, dass tatsächlich Josef der wahre Held der jungfräulichen Empfängnis war, denn Josef brauchte von allen Beteiligten den stärksten Glauben.
In diesem Klassenzimmer durfte das Kreuz noch hängen. An der Wand hingen überdies Porträtfotos Ignatius’ von Loyola und des Ordensgenerals Adolfo Nicolás Pachón, des obersten Jesuiten in Rom, den man früher den »schwarzen Papst« nannte. Pater Maureder skizzierte folgendes Tafelbild:
Leistungsmodell
Alles tun → Glück/Lohn (»Ich verdiene es«)
Nachfolgemodell
tun → Glück → tun → Glück … (Geschenk)
Das Nachfolgemodell schien schon deshalb attraktiv, weil es zweimal mit dem Glück verbunden war. Nichtchristen würden dabei nicht von Nachfolge sprechen, sondern »Der Weg ist das Ziel« sagen. Das Leistungsmodell jedenfalls war nach diesem Bild nicht christlich und auch nicht das Lernziel dieser Ausbildung. Ein christliches Leistungsmodell hätte ein anderes Glaubensverständnis vorausgesetzt: Ich erfülle die Gebote und werde dafür mit einer Eigentumswohnung im Paradies belohnt. Das ganze bürgerliche Dilemma: Leistungsmodell–Nachfolgemodell.
Am Nachmittag durfte ich in Pater Maureders Sprechstunde. Er hatte ein großes Büro, auf einem Tisch, um den herum Sessel standen, lag ein Bronzekreuz, wie es jeder Novize bekam. Eine Kerze brannte. Ich kam mir vor wie ein Achtklässler am humanistischen Gymnasium, der den Beratungslehrer aufsucht. Eigentlich saßen die Novizen hier einzeln bei ihm, um über Fortschritte und Rückschritte auf ihrem inneren Weg zu sprechen.
Wir sprachen über Armut. Jesuiten lebten arm, weil Christus arm gewesen sei, sagte Josef Maureder. Teresa von Àvila hatte gesagt: »Entferne dich nie vom Menschgewordenen.« Der eigentliche Akt des Glaubens sei, sich Gott anzuvertrauen, sagte der Novizenmeister. Reichtum hingegen habe die Funktion der Absicherung. Dies sei der Konflikt zwischen Reichtum und Glaube. Deshalb Armut.
Und lebten Jesuiten in Armut? Manche Novizen sagten, das Leben hier sei sehr ärmlich. Andere, die noch Studenten waren, bevor sie gekommen waren, fanden die Wohnbedingungen sehr großzügig. »Luxuriös«, sagte einer. »Unsere vielen Universitäten, die Ausbildung, eigentlich muss das immer korrigiert werden durch die innere Bewegung, durch einen dynamischen Abstieg, eine Offenheit für die Ärmsten«, sagte Josef Maureder. Hier war der Abstieg – etwas also, was uns Deutschen große Angst machte – etwas Positives. Ein edles Ziel, dessen Erreichen aber die innere Trägheit stets mächtig entgegenwirkte.
Nun sagte Pater Maureder: »Es gab Zeiten, in denen es kaum ein Land gab, in dem die Jesuiten nicht verfolgt oder hinausgeworfen worden wären. Ja, was ist denn los mit uns? Wir müssten wieder Anstoß erregen. Aber es ist eine Hemmung da, nach außen zu sagen, was man
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