Vom Aussteigen und Ankommen
zum Zeitgeist denkt und fühlt. Dabei hätten wir als Orden die Freiheit, unsere Meinung zu äußern.«
Die Jesuiten hatten die deutsche Geschichte der Neuzeit bestimmt wie kein anderer Orden, er überzog von der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts an weite Teile Südwestdeutschlands mit einem Netz von Hochschulen und Kollegien und legte so die Grundsteine für das Schulsystem, jetzt machte er die Entwicklung der Gesellschaft mit oder nahm sie vorweg, ohne dass er noch große Bedeutung für die Gesellschaft besaß: Finanznot, Überalterung, Schrumpfung. Nach dem Krieg gab es jährlich sechzig bis siebzig Novizen allein in Deutschland, aber nur etwa ein Zehntel davon entschied sich nach dem Noviziat für den Ordensweg. In den vergangenen Jahren hatte sich die Novizenzahl je Jahrgang auf fünf bis zehn eingependelt. Davon blieben dann aber fast alle im Orden.
Auch wenn er große Villen besaß, beklagte der Jesuitenorden einen Geldmangel. An einem Morgen las Pater Maureder einen Brief vor, der aus München von Pater Eberhard von Gemmingen kam, dem Chef des Jesuiten-Magazins. Er bat um Adressen von Menschen, an die der Orden das Heft versenden könne, kostenlos und mit Spendenquittungen. Und auch für seine Informationsbroschüre über Erbschaften suchte der Orden noch Abnehmer. In diesem Jahr waren alle seine Werke in Deutschland defizitär.
Von der Kirche bekam der Orden die Gehälter derjenigen Patres, die Aufgaben in Diözesen übernahmen. Das sahen einige Jesuiten kritisch, da es abhängig machen könne von der Diözesankirche. Der Orden werde mehr und mehr sparen müssen, an seinen Aufgaben, am Lebensstandard seiner Mitglieder, sagte Pater Maureder. Und er fand das gar nicht schlecht: Denn wenn auch die äußerlich sichtbare Lebensform eine arme wäre, sagte er, würde das den Jesuiten guttun. Pater Maureder sagte, er hätte nichts dagegen, in einen Plattenbau am Stadtrand zu ziehen. Die meisten seiner Novizen sahen das anders: Nach außen hin alternativ zu leben, das habe etwas Pharisäerhaftes.
Die Lebensgemeinschaft funktionierte ökonomisch nicht ganz anders als Damanhur oder Likatien. Es war wieder das Konzept der Großfamilie: Man teilte sich Fernseher, Auto, Speiseraum und Duschen und verzichtete dafür auf Privatvermögen. Einer hielt den anderen mit aus, die Kündigung einer Arbeitsstelle riss den Betroffenen nicht in die Katastrophe. »Wir haben, verglichen mit der Gesellschaft, ein Mehr an Rücksicht, ein Mehr an Miteinander«, sagte der Novizenmeister.
In einer Abendmesse predigte Pater Maureder zum Evangelium vom Salz der Erde. Er erzählte die Geschichte einer Exiliranerin. Sie sei in Teheran auf Drogen gewesen und habe sich prostituiert, und junge Christen flüsterten ihr auf der Straße zu: »Du wirst Christus kennenlernen, und er wird dein Leben verändern.« Sie besuchte eine Gemeinde in einer Baracke am Stadtrand, las in einer englischen Bibel, sei fundamental erschüttert gewesen und habe am nächsten Tag ein neues Leben begonnen. Pater Maureder blickte durch seine Goldrandbrille die Novizen an und sagte: »Ihr seid das Salz der Erde. Wir sollten nicht nur artig aufsagen: ›Jesus ist der Sohn Gottes‹ und so weiter, das ist doch zum Kotzen. Sondern wir sollten die fundamentale Erschütterung unseres Glaubens spüren und weitertragen.«
»Pater Maureder hat heute sehr drastische Worte benutzt«, sagte Martin Sarbach beim Abendessen, »das zeigt, dass er mit irgendetwas unzufrieden ist.«
Vom freien Kapitalmarkt in den Gehorsam
Das Auswahlverfahren der Jesuiten war ähnlich streng wie das des Ökodorfs Sieben Linden. Je kleiner die Gemeinschaft, desto genauer schaut man sich offenbar an, mit wem man zusammenleben will. Die Novizen mussten mehrere Aufnahmegespräche führen, der Orden verlangte ein psychologisches Gutachten, ein Motivationsschreiben und zwei Briefe von Freunden, die die Persönlichkeit des Bewerbers beschreiben. Die Ausbildung dauerte lang und ist für den Orden teuer. Jesuiten studierten jeweils sechs Semester Theologie und Philosophie, die Theologie an einer Jesuitenhochschule im Ausland. Dazu kam das Noviziat, ein Praxiseinsatz von zwei Jahren und ein Aufbaustudium nach freier Wahl von wiederum sechs Semestern, etwa Mathematik oder Psychologie.
Es lag nicht viel mehr als drei Jahre zurück, dass mein Angelus Hans-Martin Rieder, damals siebenundzwanzig, als Finanzmathematiker ein wenig zum großen Erdbeben an den Finanzmärkten, das ein Jahr später passieren sollte,
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