Vom Buch zum Byte. Kurze Geschichte des E-Books (German Edition)
ließ. Zugleich führte der trotz 64-Bit-Verschlüsselung gehackte Roman zu einen gewissen Lerneffekt. „Fakt ist: es gibt keinen unüberwindbaren Kopierschutz. Es ist praktisch unmöglich, ihn zugleich absolut sicher und benutzerfreundlich zu machen“, musste Len Kawell zugeben, der Chef von Glassbooks. Diese Erkenntnis führte jedoch zu einem beliebten Kurzschluss. Statt ganz einfach auf harten Kopierschutzes zu verzichten, machte Kenwall ein „antipiracy controlling problem“ aus – es gelte also, die Raubkopierer juristisch in den Griff zu bekommen.
Das E-Book-Geschäft schien jedenfalls Chancen und Risiken gleichermaßen zu bieten. Unmittelbar nach dem Start von „Riding the Bullet“ äußerte sich King selbst noch eher skeptisch über die Aussichten des elektronischen Lesens: „Während das Internet und verschiedene Computer-Anwendungen vielversprechend für die Arbeit des Schriftstellers erscheinen, glaube ich nicht, dass damit das gedruckte Wort und das gebundene Buch ersetzt werden kann. Zumindest nicht, so lange ich lebe.“ Doch die mediale Abenteuerlust des Horror-Autors schien geweckt. Noch im selben Jahr wagte King ganz ohne Verlag ein digitales Self-Publishing-Experiment der besonderen Art: „The Plant“.
In der Schublade des Bestseller-Autors schlummerte nämlich noch ein Manuskript aus den 1980er Jahren. „The Plant“ dreht sich um den erfolglosen Schriftstellers Carlos Detweiler, der aus Rache für ein abgelehntes Manuskript seinem Verleger eine heimtückische fleischfressende Pflanze schenkt. War nicht die Selbstvermarktung über das Internet ein ähnlich gefährliches Gewächs? Die ein bisschen an den Plot von „Der kleine Horrorladen“ erinnernde Geschichte schien perfekt zu passen für den Direktvertrieb via Internet. „Meine Freunde“, schrieb King auf seiner Website, „wir haben die Chance, zum schlimmsten Alptraum der großen Verlage zu werden.“
King vermarktete „The Plant“ in Form einer Fortsetzungsgeschichte, und setzte dabei auf ein Freemium-Konzept. Die erste Folge konnte man zum Preis von einem Dollar herunterladen, es gab jedoch parallel auch eine kostenlose Version. Sollten mindestens 75 Prozent aller Leser ihr Scherflein beitragen, so lautete das Versprechen, würde es eine Fortsetzung geben. Der Start war fulminant – nach kaum 24 Stunden konnte King seinen Lesern mitteilen: „Ich bin sehr zufrieden mit den Downloads, bis gestern nachmittag kamen um die 40.000 zusammen, und wir schätzen die Bezahlrate lag bei 88 Prozent. Nimm das, Mort Janklow [prominenter US-Literaturagent] und stopf dir deine Pfeife damit!“ Insgesamt erschienen bis Weihnachten 2000 sechs Folgen, im Verlauf der Aktion musste King die Bezahlschwelle jedoch auf 50 Prozent senken, die Zahl der Downloads halbierte sich. Ein Misserfolg sieht aber wohl doch etwas anders aus. Insgesamt brachte ihm die Self-Publishing-Aktion nach eigenen Angaben eine halbe Million Dollar ein.
Self-Publishing schien also grundsätzlich zu funktionieren. Doch würden im digitalen Milieu auch die zarten Pflänzchen von weniger prominenten Skribenten gedeihen? New York Times-Kritiker Steven J. Dubner blieb da eher skeptisch: „Die Medien haben Kings Akt der Rebellion zu einer Schriftsteller-Revolution hochgeschrieben. Das stimmt so wohl nicht. Die meisten Autoren kommen nicht so einfach am Launch-Tag in die ‘Today’-Show oder zu ‘Good Morning America’. Schriftsteller vom Schlage Carlos Detweiler haben wohl auch weiterhin keine andere Wahl, sie müssen ihrem Verlag menschenfressendes Grünzeug schicken.“
Stephen King selbst hielt in den folgenden Jahren erst einmal wieder seinem Hausverlag wie auch dem Medium Papier die Treue. Finanziell hatte der Bestseller-Autor weder E-Books noch Self-Publishing nötig – seine Romane verkauften sich auch so in Millionenauflagen. „Es geht nicht um das Geld, und auch nicht um die Zukunft des Bücherverlegens, sondern darum, etwas neues auszuprobieren, ein paar Knöpfe zu drücken und zu schauen, was passiert.“
2000 ff.: Vom Handy-Roman zur Lese-App
Lucy Luder & das Gesetz der Serie
E-Reader hatten es Anfang des 21. Jahrhunderts schwer, weil die Leser noch am gedruckten Buch festhielten – so will es die Legende. Stimmt aber nicht ganz. In technikaffinen Japan bremste ausgerechnet das „Keitei“ den Absatz von elektronischen Lesegeräten, mit anderen Worten, das Mobiltelefon. Schon lange vor dem Smartphone-Boom wurde dort jeder zweite Top Ten-Bestseller
Weitere Kostenlose Bücher