Vom Buch zum Byte. Kurze Geschichte des E-Books (German Edition)
„drahtlose Zeitalter” ist natürlich — siehe die Telenovelas bzw. Soap-Operas etc. — nicht das isolierte Werk, sondern die Serie. In diesem Fall die Roman-Serie. Die bekannteste deutsche Handy-Roman-Heldin der Nuller Jahre war wohl Lucy Luder, eine Erfindung von Oliver Bendel. Der Autor sagt selbst über seine Serienheldin:
„Lucy ist eine 20-jährige Jura-Studentin in Berlin und betreibt in ihrer WG in Charlottenburg ein Detektivbüro. … Sie ist ziemlich verrückt und chaotisch … Aber sie hat Ideale. Und mir ist sie sehr sympathisch. Äußerlich gesehen ist sie blond und schlank – wie einfallsreich! – und hat ein weggelasertes Tattoo am Hintern. Sie wird deshalb auch Barbie genannt, aber sie sagt selbst, sie sei eher eine Puppe in der Art der Bratz.”
Handyromane wie „Lucy Luder und der Mord im StudiVZ” oder „Lucy Luder und die Hand des Professors” zielten ganz klar auf ein junges, gebildetes, internet- und handyaffines Publikum. Das Vermarktungspotential schien groß, schließlich war mit dem Handy die zugrundeliegende Plattform schon massenhaft in aller Hände. Zudem waren die Handy-Romane günstig, kosteten nur wenige Euros, und ließen sich bequem aus dem Mobilfunknetz ziehen. Eine perfektere Kombination schien kaum denkbar: Medium wie auch seine Inhalte waren Teil der jugendlichen Populärkultur.
Das Gesetz der Serie galt umso mehr auf den Handy-Displays der Grande Nation. „Guten Tag, mein Name ist Thomas Drimm, ich bin fast 13 Jahre alt und gerade dabei, die Welt zu retten.” Diesen Satz konnten im Jahr 2009 unzählige Franzosen auf dem Display ihrer Mobiltelefonen lesen. Denn so begann die erste Folge von Didier van Cauwelaerts Handy-Roman „Die Abenteuer von Thomas Drimm”. Der für skurrile Mystery-Stoffe bekannte Bestseller-Autor führt seine Leser in die Welt eines Teenagers, der plötzlich in Kontakt mit der Geisterwelt gerät.
Gerade in Frankreich hat der täglich in Folgen erscheinende „Roman feuilleton” eine lange Tradition. Im 19. Jahrhundert steigerten Tageszeitungen wie „Le Siècle“ oder „Le Temps“ ihre Auflagen durch Fortsetzungsromane von Star-Autoren wie Alexandre Dumas oder Eugène Sue. Insofern scheint es passend, dass man outre-Rhin gegen Ende der Nuller Jahre mit dem mobilen Fortsetzungsroman für Handy und Smartphone experimentiert hat.
Die erste Staffel der „Abenteuer von Thomas Drimm“ umfasste zehn Folgen. Handy-Nutzer im französischen Netz konnten die tägliche Text-Dosis per SMS mit dem Stichwort “Smartnovel” abonnieren. Technisch ermöglicht wurde die Handy-Version durch eine Java-Anwendung, die automatisch die neuen Kapitel abrief. „Auf diese Weise nutze ich das Mobiltelefon, um die literarische Tradition des Fortsetzungsromans zu erneuern. Die Leser werden ständig vor unerwartete Situationen gestellen, damit sie bei der Stange bleiben”, so van Cauwelaert.
Genau genommen hat er keinen echten Handy-Roman geschrieben, sondern Material umgearbeitet, das er schon in der Schublade hatte. Doch das Serienprinzip gefiel dem Bestseller-Autor, der früher nicht viel mit digitaler Kultur am Hut hatte, sofort: „Die Leser erwarten jeden Tag eine neue Episode, diese Vorstellung ist doch sehr verführerisch für einen Autor. Man hat sozusagen jeden Tag ein Rendez-Vous mit seinen Lesern, und das für Wochen oder sogar Monate. Für die Leser werden meine Romanfiguren so eine Art Freunde, die man jeden Tag trifft.”
Das große Scannen: Googles Buchsuche und die Folgen
Bis vor wenigen Jahren entstand kaum ein E-Book „from scratch“. Oft wurde ganz einfach die Print-Version eingescannt und mit sogenannter „OCR“-Software („Online Character Recognition“, also „Online Buchstaben Erkennung“) in elektronischen Text umgewandelt. Die Enthusiasten von Project Gutenberg und die Anhänger der Copyleft-Bewegung arbeiteten schon seit den 1990er Jahren so. Doch auch Amazon musste für die „Search Inside a Book“-Funktion gerade bei älteren Titeln auf das Digitalisieren gedruckter Vorlagen zurückgreifen.
Beim Suchmaschinen-Riesen Google dürfte das 2003 gestartet Feature einen besonderen Ruck ausgelöst haben. In den Gängen des Googleplex mitten im Silicon Valley war man schon längst nicht mehr damit zufrieden, nur eine Suchfunktion für das Internet anzubieten. Weitaus mehr Informationen war in den Bibliotheken der ganzen Welt gespeichert – aber leider offline. Gewohnt, groß zu denken, hatten sich die Googler bereits die
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