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Vom Dorf - Abenteuergeschichten zum Fest

Titel: Vom Dorf - Abenteuergeschichten zum Fest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Rávic Strubel
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Elektrisierung! Und manchmal bewirken die Weihnachtsgeschichten ein ähnliches, beinahe enthemmendes Gefühl.
    Wenn es gutgeht. Wenn es gelingt, überhaupt etwas zu Papier zu bringen.
    Geht es nicht gut, will sich auch dieser elektrisierte Zustand nicht einstellen.
    Sollte ARS auch auf diesen, wirklich allerletzten Brief nicht antworten (vielleicht schreckt sie mein Geständnis ab?), werde ich mich endgültig auf die Geschichten konzentrieren.
    |78| Sollte sie nicht antworten, muß ich versuchen, mit dem wenigen auszukommen, was da ist.
    Das Klarste, was da ist, sind die Träume. In den Träumen ist ARS neben mir, wir befinden uns auf einem langen Spaziergang. Er scheint kein Ende zu nehmen, aber es erschöpft uns nicht, im Gegenteil. Je länger wir gehen, umso erfrischter sind wir. Dieser Traum kehrt ständig wieder, und während ich träume, verändert er sich. Er wird grausam. ARS läuft zwar immer noch neben mir, ist aber – wie in Wirklichkeit – nicht wirklich da. Wir reden, aber sie ist weder spürbar, noch kann ich sie sehen. Ich höre ihre Schritte, deutlich sogar, ich höre sie dicht neben mir, aber wenn ich hinschaue, ist da nichts. Ich starre ins Leere. Was dann folgt, ist ein trostloses Erwachen, weil ich im Traum schon weiß, ich rede wieder nur mit mir selbst. Ein Wissen, das mir das Träumen gründlich vergällt.
    Der Mensch kann sich einiges vormachen. Aber im Grunde habe ich nichts. Ich habe zum Beispiel keine einzige brauchbare Erinnerung an eine Begegnung mit ihr, bei der sie ihre Maske, ihre öffentliche Person abgelegt hätte. Ihre flüchtig niedergeschriebenen Autogramme kamen vom Unterschriftendeuter, dem ich sie geschickt hatte, mit der Bemerkung zurück, sie seien
fake
. Die Urheberin habe sich diese Signatur in ihrer Teenager-Zeit antrainiert. Er könne nicht garantieren, daß das, was er daraus lese, der Wahrheit entspreche.
    Können Sie sich immer nur an das erinnern, was tatsächlich passiert ist?
    Es muß möglich sein, auch so den richtigen Ton zu finden. Das muß mehr und mehr die eigentliche Aufgabe werden.
    Auch in den kommenden Nächten. Wenn die Rollos heruntergelassen, die Kanne Schwarztee gebrüht, die Fotos und Interviews auf dem Tisch sortiert sind und das Maskottchen |79| an seinen Platz unter der Lampe gerückt ist. Das Maskottchen ist eine kleine chinesische Porzellanfigur, eine Mao-Tänzerin. Ein Schulfreund brachte sie vor Jahren aus China mit. In ihrer Faust leuchtet eine rote Fahne. Sie beschwört einen Hauch von Revolution herauf, als einzige in diesem Haus, in diesem Land, und wer weiß, für wie lange.
    Draußen stürmt es. Die Dachfenster klappern. Das Klappern macht die Stille groß. Das Donnern der Kuckucksuhr. Das Echo des Windes unter den Türschwellen. Das Surren der Fliegen hinter der Wand, sie kleben fest in ihrem Winterschlaf.
    Die Mäuse in der Kammer. Die starren Laken auf dem Bett.
    In Momenten wie diesen, in Nächten, in denen kein Wort zu Papier zu bringen ist, in denen das Feuer, das die Jugendlichen drüben in den Neubauhöhlen machen, langsam verlischt, in diesen Nächten habe ich das Gefühl, nicht mehr die Treppen hinuntergehen zu können. Einfach sitzen bleiben zu müssen, steif und reglos. Sitzen bleiben zu müssen am offenen Fenster, in der kalten Luft und zu warten, bis ich vollständig ausgekühlt bin, blaugefroren, bis mich so eine Lungenentzündung gleich hier am Schreibtisch holt oder der Eisschlag trifft. Und dann Stille. Und die Landschaft draußen liegt grau im geborgten Licht.
    Aber man ist zu feige. Man steht ja doch wieder auf. Jawohl! Steht auf und freut sich, freut sich jedesmal wie ein Idiot, wenn Hände und Füße unter dem warmen fließenden Wasser wieder auftauen und zu schmerzen beginnen.
    Eine seltsame Einrichtung ist so ein Mensch. – Man hat schon vor dem eigenen Körper Angst. Vor dem Versagen des Körpers.
    Der Wetterbericht hat einen Sturm vorhergesagt. Es wird schlimmer werden als am Totensonntag. Am Totensonntag |80| gab es kurzzeitig Hoffnung. Ein schmales Päckchen lag vor der Tür. Der Sturm hatte es in die Pfütze getrieben, die sich rechts vor dem Eingang sammelt, wo der Beton rissig und uneben ist. Ich hob es auf, als ich von einem Spaziergang nach Hause kam. Die Postfrau mußte es achtlos neben die Tür gelegt haben, wo ich es übersehen hatte, als ich am Samstag noch einmal Milch kaufen gegangen war.
    Bis auf die in Zellophan eingewickelten Kokosflocken war alles im Päckchen durchweicht, die mit Füller

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