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Vom Dorf - Abenteuergeschichten zum Fest

Titel: Vom Dorf - Abenteuergeschichten zum Fest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Rávic Strubel
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heftig gerollte R.   Hinter ihm montierten sie eine Kamera vom Stativ.
    Unter einer Schwinge am linken Zeh einer roten Styroporfrau stand Sonja.
    »Kann mich mal einer aufklären?«
    »Willst du dich nicht erstmal hinsetzen.«
    »Seit wann duzen wir uns?« sagte ich grob.
    »Hast du denn wirklich keine Ahnung?« Sie sah mich mit ihren erschreckend blauen Augen mitleidig an, oder waren das die Flügel, die sich von überall in ihrer Iris spiegelten und überlappten...
    »Ich laß mich doch hier nicht   –«, begann ich und wollte schon eine dem derzeitigen Standard meines Chefs nicht entsprechende Vokabel benutzen, als sie sagte: »Du warst uns gerade eine große Hilfe. Bist du okay? Brauchst du irgendwas? Nein? Also. Dann hör mal. Der da drüben, das ist Herr Rübe, Spitzname Papst, ein Bekannter von deiner Freundin. Werbebranche.«
    »Der Russe?«
    »Finne«, sagte sie. »Hat eine Marktlücke entdeckt. Das Kaff von deiner Freundin, diese sozialistische Enklave, ist völlig von der Welt abgeschnitten. Also will er die Menschen dort mit Handys beglücken, Sonderaktion zu Weihnachten. Der brauchte jetzt nur noch jemanden, der in seinem Werbefilmchen mitspielt. Und da kam deine Freundin auf dich. War das Einfachste. Und außerdem wäre das doch mal ein Geschenk, dachte sie, ein echtes Weihnachtsgeschenk, wo dir sonst nicht soviel einfällt, entschuldige, das hat
sie
gesagt. Also im Wortlaut hat sie gesagt: Der fällt seit Jahren auch nix anderes ein als Schokokekse. Sind |73| zwar teuer, bleiben aber doch immer dieselben Schokokekse.«
    »Aha.«
    »Ja. Und icke bin eben die frischgebackene Artdirektorin, Abteilung Ost, also gewissermaßen so eine Agentin für aussichtslose Fälle, weshalb sie mich dann eingeschaltet haben.«
    »Aha.« Die Engel am Tresen drehten ihre Gestirne in einer Wahnsinnsgeschwindigkeit.
    »Da sollte eine mit einem roten Handy durch’s Bild laufen, und wenn es klingelt, dann kommt so ein Erkenntnisblitz, eine echte Überraschung, das soll man im Gesicht sehen, man soll sehen, jetzt hat sie die Botschaft. Und das hast du wirklich gut gemacht!«
    »Und wie lautet die Botschaft?«
    »Keine Ahnung, weiß ich jetzt auch nicht. Als Artdirektor hat man da andere Kompetenzen.«
    »Find ich jetzt alles total an den Haaren herbeigezogen«, sagte ich bockig und ganz im Slang der Nurtia-Handyvertreter und sehnte mich nach meinen einfachen Gesprächscoachingworkshops zurück. Aber für Situationen wie diese hatte es dort nie Handlungsanweisungen gegeben. Oder nur die einfache und auch in bezug auf meine Freundin vom Dorf jetzt gültige Weisheit: kommen lassen, abwarten und immer erstmal kommen lassen.
    Und genau das war der Moment, in dem Sonja mir tröstend einen Arm um die Schultern legte, mich sachkundig aus dem Gewimmel lotste und sanft zu einer Couch in der Ecke schob. Und als sie sah, wie ich mich erschöpft aus der Jacke schälte und um einen Kamillentee bat, sagte sie leise: »Zu mir oder zu dir oder doch erst der Tee?«
     
    |74| Brief vom 30.   10.   2005
     
    »Liebe Antje, du kannst dir sicher nicht vorstellen, wieviel Selbstüberwindung es kostet, dir trotz deines Schweigens nach Ablauf der Frist erneut zu schreiben. Ich schreibe dir heute auch nur für den Fall, daß du dir immer noch nicht sicher bist, wie du mich einschätzen sollst.
    Bestimmt bekommst du viel Post und mußt eine Auswahl treffen, die Spreu vom Weizen trennen, wie man so sagt. Deshalb möchte ich dir etwas offenbaren, das dich meiner guten Absichten endgültig versichern soll:
    Vor zwei Jahren, vielleicht erinnerst du dich, bekamst du eine Email von einer freien Veranstalterin, die dir voller Feuereifer anbot, einen Saal zu suchen für eine große Lesung vor mindestens achthundert Leuten. Du hast damals sehr zurückhaltend reagiert. Um so heftiger legte ich mich ins Zeug. Ich rief alle großen Bühnen und Konzerthäuser an, dann ging ich persönlich dort vorbei. Früher hätte ich da etwas erreicht. Früher hätte ich über den Wert sprechen können, den deine Bücher für die Gemeinschaft besitzen, über ihre visionäre Kraft und die bewußtseinsbildende Rolle, die Literatur in einer Gesellschaft spielen kann, besonders in einer so herausgeforderten und zerriebenen wie der unseren. Ich hätte von der Bedeutung gesprochen, die jede Schriftstellerin und jeder Schriftsteller hat. Über ihren Auftrag, Prozesse innerhalb einer Gesellschaft wahrnehmbar zu machen, die für die meisten von uns nicht sichtbar sind. Wir mögen

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