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Vom Dorf - Abenteuergeschichten zum Fest

Titel: Vom Dorf - Abenteuergeschichten zum Fest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Rávic Strubel
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Haltestellenhäuschen, krumme Gehwegplatten, zerfetzte Kabel an wurmzerfressenen Hochspannungsmasten, rostende Schienen, zwischen denen Raute und Hirtentäschel wachsen, kaputte Lautsprecher und blinde Fahrpläne, das alles muß so, wie es einst war, darunter verschwunden |86| sein, wo es immer noch ein schauriges Leben führt. Sucht man jedoch danach, spiegeln die Bahnhöfe nur einen selbst zurück, wie der Computerbildschirm, wenn die Sonne darauf fällt.
    Nach einer Weile ließ das Schwindelgefühl nach. Ich wunderte mich, daß ich der Fahrtkartenkontrolle entging. Die Schaffner kamen mehrmals durch, aber immer gingen sie an mir vorbei. Ich steckte dann das Ticket ein. Ich wollte es auf der Rückfahrt wiederverwenden, was auch ökologisch gesehen ein großer Vorteil war.
    Als ich ankam, war meine Freundin vom Dorf nicht da. Der Bahnsteig glänzte im späten Licht. Zwei weitere Fahrgäste waren ausgestiegen und gingen die Treppe zum Bahnhofsgebäude hinunter. Ich sah sie auf der anderen Seite wieder hinaufkommen. Auf dem Bahnsteig war niemand mehr, und es zog.
    Ich befand mich inmitten schillernder Felder, wobei das Schillern von einer weißgetünchten Gipsfabrik kam. Dahinter stand ein ausgebrannter Plattenbau.
    »Na, Mensch, Glück jehabt!«
    Ich drehte mich um, aber da war nichts. Die Stimme meiner Freundin war dicht an meinem Ohr gewesen, aber der Bahnsteig war leer.
    »Wennde noch zehn Minuten länger Verspätung jehabt hättest, wär ick wegjewesen.«
    Eine Katze kreuzte die Schienen.
    Die Fahrt hatte keine Stunde gedauert, das Schwindelgefühl war verschwunden, und ich hatte auch kein Fieber. Aber immer noch sah ich niemanden. Sie mußte aus dem Off zu mir gesprochen haben, von irgendwo oberhalb des Bahnsteigdachs, vielleicht aus den Lautsprechern, die sonst Züge und Verspätungen ankündigten. Aber sie hatte geklungen, als wäre sie direkt neben mir, genau dort, wo |87| nichts war. Die beiden Fahrgäste waren im Bahnhofsgebäude verschwunden.
    »Weest ja, Vorweihnachtsstreß«, hörte ich. »Ooch beim Ballett.«
    »Guten Tag«, sagte ich zögernd und probehalber in Richtung Wagenstandsanzeiger.
    »Ja, wat jetz, ick bins doch nur, wat biste denn so förmlich!«
    »Also. Ich bin, ich meine, ich war mir grad nicht sicher, ob du’s wirklich bist«, sagte ich und lachte. Es hörte sich wacklig an. Ich hatte die Augen beim Sprechen an den oberen Lidrand gedreht, als würde ich mich im Dunkeln an einer Wand entlangtasten, auf der Suche nach dem Lichtschalter. Sofort bemühte ich mich, normal zu gucken. Ich konnte meine Freundin nicht sehen, aber das bedeutete nicht, daß ich für sie gleichermaßen unsichtbar war. Ich hörte sie, einmal streifte mich sogar ihre Hand, aber was ich sah, war das Bahnhofsgebäude, verlassene Wespennester unter den Neonröhren, den Himmel.
    »Na ja, du hast da so was an dir«, sagte ich, »also eigentlich hast du so was nicht an dir, was man normalerweise, weißt du, eben an sich hat.«
    »Biste jetzt unter die Philosophen gegangen? Wat an mir? Ick will doch hoffen, daß ick nich nackich hier rumstehe!«
    »Das hängt damit zusammen«, sagte ich, »ich kann gar nicht beurteilen, ob du was anhast, weil, also ich fürchte, ich kann das nicht sehen, also dich nicht.«
    »Ach nee! Is dir ooch schon uffjefalln. Bist ja ’n echter Blitzmerker. Aba so schlimm kann’s nich sein. Immerhin hamse mich jenommen. Meene Rennpappe steht übrigens da drüben.«
    »Wo haben sie dich genommen?« fragte ich leise, den |88| Kopf gesenkt, während ich dem Geräusch folgte, von dem ich annahm, daß es die Schritte meiner Freundin waren. Ich war mir nicht einmal sicher, ob sie wirklich redete, ob sie auch für andere zu hören war. Vielleicht steckte ich nur in einer persönlichen Vorstellung oder in einer Erinnerung, in der Erinnerung an eine Fotografie, auf der ein Mädchen mit acht ins Leere starrt.
    Ins Leere starrt und etwas sieht, von dem ich jetzt, als Ältere, nicht mehr wußte, was genau das gewesen war.
    »Na bei die Tanzmäuse!« sagte meine Freundin. »Dit is so ’ne Kompagnie aus Düsseldorf. Die machen hier so uff Abwechslung, blühende Landschaften und so, und da nehm die allet uff, wat unter hundert Kilo is und mit’m Arsch wackeln kann.«
    Der Parkplatz, ein neu gepflastertes Schlammloch, lag ausgestorben da. Über der Bahnhofstür hing eine Lichterkette, die aus roten und grünen Herzen blinkte, ein Licht, das von den vereisten Feldern ringsum vervielfacht wurde.
    »Aber wenn man dich

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