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Vom Dorf - Abenteuergeschichten zum Fest

Titel: Vom Dorf - Abenteuergeschichten zum Fest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Rávic Strubel
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ausgedacht wie der alte Chef. Allerdings konnte ich mir schwer vorstellen, daß ich mir auch das mal gewünscht hatte. Der alte erschien mir jetzt liebenswert. Sein Kontrollzwang schien Interesse, sein Egoismus die Voraussetzung für Brillanz gewesen zu sein, denn er hatte noch eigene Ideen.
    Der Neue hielt Auferstehung zu Weihnachten womöglich für Pop. Im Musical war Jesus der Superstar, im Techno der Goa-Tänzer irgendwie auch, in der Bibel waren die entscheidenden Stellen p.c. oder aus technischem Unwissen ausgeblendet worden, im Netz diskutierten sie die Vorhaut von Jesus. Ob die mit auferstanden war. Es war drei Wochen vor Weihnachten, und mir fiel nichts ein.
    Ich ging in die Gedächtniskirche und schaute mir Kreuze an, schöne blutende Corpora, eine Fernheizung rauschte, der Chor probte Bach. Nach zwei Stunden verlies ich die Kirche mit einer vorweihnachtlichen Depression. Mir war klar, daß ich Berlin für den Rest meines Lebens unter einer blauen Plastetüte hervor aus der Maulwurfsperspektive betrachten mußte.
    Meine Freundin hätte gesagt: »Nu mach aba ma halblang.« Das sagte sie häufiger, seit sie mit einem Robben & Wientjes wieder aufs Dorf rausgefahren war. Den Sommer hatte sie im Prenzlauer Berg verbracht, sie wollte in meiner Nähe sein, hatte es dann aber nicht ausgehalten wegen der einheitlichen Demografie, wie sie sagte, und der Aussicht, daß der ganze Prenzlauer Berg in dreißig Jahren ein Altersheim war. Sie hatte vor der Wende dort längere Zeit gelebt |84| und damit geprahlt, jedes Einschußloch in den Fassaden noch zu kennen. Die Einschußlöcher waren mittlerweile übertüncht worden, weshalb sie jetzt regelmäßig die Orientierung verlor, und Ende September stand sie wieder auf der Ladeklappe eines Kleintransporters, einen Schmutzstreifen auf dem Gesicht, und rief zu mir herunter: »Ick ruf dir an.«
    Sie war auf ein Dorf im Brandenburgischen gezogen. Ich stellte mir vor, wie sie lebte dort draußen, zwischen Einfamilienhäusern, Doppelhaushälften, Gänsen, arbeitslosen Bauern, traurigen Ministerialbeamten, verlassenen Ehemännern, die ihre unnütz gewordenen Körper am Tresen abstellten, und Frauen, die die Kieselsteine vorm Gartentor harkten. Alles kein Auferstehungsmaterial.
    Als ich in meiner Großstadtwohnung eine Packung Haushaltskerzen angezündet hatte und Schneeflöckchenweißröckchen hörte, klingelte endlich das Telefon.
    »Präparassiong!«
    Meine Freundin brüllte ins Telefon. Das tat sie in letzter Zeit wieder öfter. Sie hatte Fernmeldetechnikerin gelernt und täglich mit sozialistischen Fernmeldeanlagen arbeiten müssen, durch die man sich nur brüllend verständigen konnte. Sie hatte sich das nie abgewöhnt. Sie schickte mir einen Schwall verhunzter französischer Fachbegriffe durch die Leitung.
    »Biste platt, wa?«
    »Machst du einen Volkshochschulkurs?« fragte ich. »Französisch für Anfänger?«
    »Falsch«, sagte sie. »Ballett.«
    Schon das war nicht glaubwürdig. Ohne meine dunklen Vorahnungen zu beachten, blies ich meinen Schutzengel in den Wind, wo er beleidigt und einsam ins neue Jahr segelte, und sagte: »Oh.«
    |85| »Sie ham ’ne Lehrerin jebraucht, so’ne Vortanzmaus, und dit bin jetz icke.«
    Ich stellte mir meine Freundin vom Dorf in einem silbrigen Tüllröckchen mit Spitze, 100   Prozent Polyester, vor.
    »Halt ma die Luft an, jibs ja nüscht bei zu gackern. Ick hab ma schließlich schon als kleenet Würstchen im Arbeiterballett een abjerackert!«
    »Arbeiterballett?«
    »Nur ’n schreibender Arbeiter is ’n juter Arbeiter. Dit hamse damals ooch uff’s Tanzen ausjedehnt.«
    Als sie eine Pause machte, brachte ich ihr mein Problem nahe.
    »Auferstehung?« brüllte meine Freundin vom Dorf. »Is ’n Wessi, wa? Da ham se nun schon seit Jahren uns und träum da imma noch von. Mannmannmann«, sagte sie. »Aba uns wird schon wat einfallen. Dit war doch schon imma eene von die leichteren Übungen, wa? Also komm rüba, und dann kieken wa mal.«
    So kam es, daß ich ein paar Tage auf dem Dorf verbrachte.
    Wenn man aus Berlin kommt, erscheint einem die Fahrt aufs Land zuerst gefährlich, als würde man auf einer immer dünneren Schnur balancieren. Die Bahnhöfe ähneln sich. Wind zieht über spiegelnde Oberflächen, treibt an Glaskästen aufwärts, die hochbeinig und von Stahl umrahmt sind und exakt kalkulierte Pläne enthalten, die jeder Sehnsucht eine präzise Abfahrtszeit zuordnen. Aber die nach Urin stinkenden, pilzüberwucherten

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